„Bilder einer Ausstellung“ für Orchester Kinder toben, Karren rumpelt, Hexe kreischt

Köln · Eine wunderbare Neueinspielung von Modest Mussorgskys Zyklus „Bilder einer Ausstellung“ in Maurice Ravels Orchestrierung ist dem französischen Ensemble Les Siècles unter François-Xavier Roth gelungen.

 Mussorgsky, gemalt von Ilya Repin.

Mussorgsky, gemalt von Ilya Repin.

Foto: AWG

Es war in den 70er Jahren, dass die Untertertia eines niederrheinischen Jungengymnasiums – fast ein Ding der Unmöglichkeit – sehr andächtig wurde. Unser Musiklehrer hatte uns als interdisziplinäre Kunstübung aufgegeben, zu den Klängen von Mussorgskys „Das alte Schloss“ ein Bild zu malen. Nach anfänglichem Gejohle und Anflügen von pubertärer Renitenz fanden sich alle irgendwann bereit, ihr „Schloss“ zu konzipieren. Hinterher wurden die besten Arbeiten hochgehalten und gelobt, und alle erklärten, dass das irgendwie sehr gute Musik sei, obwohl der Alltag der meisten Schüler von Procol Harum, Slade, Jethro Tull, Led Zeppelin und den Stones bestimmt war.

Die „Bilder einer Ausstellung“ behandelten wir damals als besonders volkstümliche und einprägsame Form von Programmmusik, und das ist sie ja auch: Mussorgsky hatte eine Gedächtnisschau mit Werken des Malers Viktor Hartmann besucht, und in Musik spürte er den Bildern nach, erweiterte ihren spirituellen Raum, körnte, schraffierte, glättete sie; er plusterte sie auf und ließ dann wieder die Luft ab. Und sogar das Wandeln zwischen den Bildern komponierte Mussorgsky: „Promenade“ heißt das Stück, von dem es mehrere Varianten gibt.

1874 schuf Mussorgsky das Original für Klavier solo, 1922 Maurice Ravel die berühmte Orchesterfassung, die heute zu den Klassikern im Reiserepertoire der großen Orchester zählt. Jetzt gibt es die Gelegenheit, Ravels Geniestreich sozusagen im doppelten Original zu bestaunen: erstens als rekonstruierte Urfassung im Rahmen der neuen Ravel-Gesamtausgabe, zweitens mit Instrumenten aus der damaligen Zeit. Dem französischen Ensemble Les Siècles unter François-Xavier Roth ist eine Entdeckung in jeder Hinsicht gelungen. Es legt sozusagen die originalen Farben frei, kratzt die Patina ab und schärft unser Bewusstsein für die Verbindung des Russisch-Ursprünglichen und des Französisch-Weltmännischen.

Spieltechnisch gelingt das sensationell. Die Kinder in den „Tuilerien“ toben so unbeschwert und ausgelassen, dass einem in Corona-Zeiten fast die Tränen kommen; der Ochsenkarren „Bydlo“ rumpelt, aber nimmt diesmal nicht die ganze Straße ein; die Hexe Baba-Yaga kreitscht zum Zähneziehen. Das „Große Tor von Kiew“ ist endlich mal kein Monumentalbau, sondern ein luftiges Gebilde – genau, wie Hartmann es sich ausgedacht hatte.

Und das „alte Schloss“? Es ist wieder zum Träumen schön, sodass man beim Hören natürlich gleich an das Schloss Ravel denkt. Dort wurde der herrliche Film „Die Kinder des Monsieur Mathieu“ gedreht – in dem lauter freche Jungen nachhaltig an die große Kunst herangeführt werden.

 Info Modest Mussorgsky, „Bilder einer Ausstellung“ (in Ravels Instrumentierung), Maurice Ravel, „La Valse“; Les Siècles (auf historischen Instrumenten), François-Xavier Roth; Harmonia mundi France

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort