Bestseller-Roman „Erstaunen“ Mit Richard Powers in die Zukunft

Düsseldorf · Barack Obama ist sein größter Fan: Der US-Schriftsteller Richard Powers rüttelt seine Leserschaft auf sanfte und charmante Weise auf. Nun legt der Pulitzer-Preisträger sein neues Buch „Erstaunen“ vor. Eine sehr persönliche Begegnung.

 Pulitzer-Preisträger Richard Powers.

Pulitzer-Preisträger Richard Powers.

Foto: dpa/Kirsty O'connor

Und dann steht er vor mir, sehr groß, sehr hager. Er lächelt und bewegt dabei kaum die Lippen. Er strahlt vor Freundlichkeit. Er hält zur Begrüßung seine rechte Faust hin, und weil er erkältet ist, hört sich seine ohnehin tiefe Stimme an wie die von Barry White: „Hallo.“ Richard Powers ist zu einer Lesung ins Heine-Haus in Düsseldorf gekommen. 64 Jahre, amerikanischer Bestseller-Autor, Pulitzer-Preisträger. Ich bin sicher: Er ist jemand, der mehr weiß über die Zusammenhänge der Welt als wir.

Warum ich das denke? Kurz mal ausholen: 2018 veröffentlichte Powers das Buch „Die Wurzeln des Lebens“. Ich wollte das erst gar nicht lesen: Ein Roman, der aufgebaut ist wie ein Baum und sich in scheinbar nicht miteinander verbundenen Einzelerzählungen verästelt. Bäume sind darin handelnde Personen, nichts unterscheidet sie von den menschlichen Figuren. Ich las dann aber doch, und es ging mir wie Barack Obama, dem prominentesten Fan Richard Powers: Ich konnte nicht mehr aufhören, und nach mehr als 600 Seiten blickte ich mit neuen Augen auf die Welt. Wer Powers liest, verabschiedet sich vom Anthropozentrismus. Bitte diesen typischen Powers-Satz mit Rachendrachenraspel-Stimme sprechen: „We are not the greatest show in town.“

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In den Herbsturlaub nahm ich das neue Buch „Erstaunen“ mit. Es geht um den Wissenschaftler Theo Byrne, der seinen Sohn Robin alleine erzieht, weil seine Ehefrau Alyssa vor kurzem bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist – sie war einem Opossum ausgewichen. Robin ist ein empathisches Kind, er regt sich leicht und heftig auf. Und in Rage gerät er zumeist über die Lethargie der Erwachsenen: Warum helft ihr der Erde nicht, obwohl ihr wisst, dass sie leidet? Theo und Robin sind „lost boys“, und das Buch ist eine dreifache Liebesgeschichte: die des Vaters zum Sohn, die des Sohns zur verstorbenen Mutter und die einer Familie zur Natur.

Ich hatte den Roman im Gepäck, als wir in der per AirBnB gebuchten Doppelhaushälfte an der Südküste Portugals ankamen. Unsere Gastgeber Carla und Nuno waren Aussteiger. Er hatte 3G bei Siemens mitentwickelt und sich dann zum Surfen und Meditieren abgesetzt. Sie praktiziert Makrobiotik. Und obwohl wir uns darauf freuten, uns nach langer Anreise erstmal einzurichten, führten sie uns zunächst zwei Stunden lang durch ihren Garten und stellten jede Pflanze einzeln vor: Sie sagten nie „it“, sondern immer „she“. Als sie uns endlich unsere Zimmer zeigten, sahen wir, dass die Bücherregale gut gefüllt waren: die Lehren des Buddhismus, die Weisheiten des Dalai Lama, Gespräche mit Ravi Shankar. Die Erleuchtung war nie näher.

Wir gingen nun jeden Morgen und Abend ans Meer, wir gossen Kräuter aus dem Garten mit heißem Wasser auf. Wir waren easy und im Einklang mit dem großen Ganzen. In dieser Umgebung las ich also das Buch von Richard Powers, und kurz vor Schluss stand ich besonders früh auf, damit ich es ungestört auslesen könnte. Das Finale ist dramatisch. Vater und Sohn im Wald, Katastrophe, Kloß im Hals: Ich hatte das dringende Bedürfnis, sofort meinen Sohn zu umarmen. Wie auf Bestellung trat er in diesem Moment aus seinem Zimmer. Und er trug ein T-Shirt mit der Aufschrift „Be Nice To Your Mother“. Darunter sah man die gezeichnete Erdkugel, aus der alle guten Geister entwichen.

Ich glaube, dass Richard Powers das Talent hat, mit seiner Literatur unsichtbare Nervenbahnen zum Leuchten zu bringen. Er aktiviert das, was man die Chemie zwischen den Menschen nennt. Er schreibt für die Gegenwart, obwohl er gar nicht immer über die Gegenwart schreibt. Er schärft den Blick für alle Lebendige. Und er weiß, dass die Zukunft jetzt beginnt.

In Düsseldorf erzählt Powers, dass er „Erstaunen“ als einen Ast begreift, der ihm nachträglich aus den „Wurzeln des Lebens“ zugewachsen sei. Zunächst handelte das Buch von einer verbitterten Dame und einem idealistischen Wissenschaftler, der ihr mit einer emotionalen Therapie einen anderen Zugang zur Welt ermöglichen wollte. Aber Powers quälte sich. Und weil er inzwischen nahe an das mächtige Waldgebiet der Great Smoky Mountain gezogen war, ging er wandern. Nach mehreren Tagen fühlte er ein Gewicht auf seinen Schultern. Er stellte sich vor, da sitze ein Junge, und er müsse ihm die Frage beantworten, warum wir das alles passieren ließen. Warum wir die Natur zerstörten. Powers ging heim, zerriss die 120 Seiten, die er bereits geschrieben hatte und fing neu an.

Richard Powers schreibt Science-Fiction, aber nicht in dem Sinne, dass er sich phantastische Welten ausmalt. Er flicht wissenschaftliche Erkenntnisse in seine Prosa. Aber nie als Belehrung, sondern als Grundbass seiner Erzählung. Er ist ein Storyteller. Und er kennt den Weg in die Herzen seiner Leserschaft. Man darf sich seine Bücher nicht zusammenfassen lassen. Man muss sie aufschlagen: Zwischen den Zeilen brennt Licht.

Natürlich isst Powers kein Fleisch, er bestellt Spaghetti mit Öl und Knoblauch. „Wir brauchen eine neue Art, auf der Welt zu sein“, sagt er gegen Ende des Abends im Restaurant. Er sagt das mit dieser Stimme, und er sagt das mit solcher Freundlichkeit und Menschenliebe, dass die Distanz zwischen Portugal, Düsseldorf und den USA zusammenschnurrt. Mir kommt ein Zitat aus den Büchern in der Wohnung von Carla und Nuno in den Sinn: „Niemand rettet uns außer wir selbst. Wir müssen selbst den Weg gehen.“

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