Dialekte und Regionalsprachen auf dem Rückzug Woröm de Sproch von fröer vott ess

Analyse | Düsseldorf · Dialekte sind der Sound der Regionen Deutschlands. Sie stiften Identität und Heimat. Doch gesprochen werden sie immer weniger und könnten womöglich ganz aussterben. Linguisten haben erforscht, woran das liegt. Und was das sprachliche Erbe schützen könnte.

Im Kölner Hänneschen Theater wird Mundart gepflegt.

Im Kölner Hänneschen Theater wird Mundart gepflegt.

Foto: picture alliance / Rolf Vennenbernd/dpa/Rolf Vennenbernd

Mine Öllern, mine Grotöllern un ick hämm got kommuniziert; manchmal hämm wi ons ock got verdrogen! Von seinen Eltern, Großeltern und dem familiären Miteinander erzählt Werner Beutling in seinem Buch „Do hämm wi’t all werra!“, verfasst in einer eigenartigen Mischsprache aus rheinischem Platt, Mecklenburgischem, Posenischem, Brandenburgischem, Danzigischem, Kur- und Livländischem. Eng habe man beinandergewohnt, darum viel gesprochen: „Awer ick bliev dobi, datt et besser ist, wenn Jong und Old erh eegen Nest hämm, wo se rinkrupen könen.“

Hötter Platt heißt diese Sprache, verwendet wurde sie von Menschen in Düsseldorf Gerresheim, die an „de Hött“, der dortigen Glashütte arbeiteten. Aus allen möglichen Regionen Deutschlands und Europas waren Glasmacher Ende des 19. Jahrhunderts zur zeitweise größten Glasfabrik der Welt gezogen, brachten ihre Dialekte, Redewendungen, Begrifflichkeiten mit. So entstand im Mikrokosmos um eine Fabrik auch das Amalgam einer einzigartigen Sprachform. Doch mit dem Niedergang der Glashütte, die 2005 endgültig geschlossen wurde, verschwand auch das Hötter Platt. Und mit ihm ein Stück lokale Geschichte und Identität. Ein Stück Heimat.

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Foto: Matzerath, Ralph (rm-)

Kein Einzelfall: Dialekte und Regionalsprachen sind in Deutschland auf dem Rückzug. Bei der jüngsten repräsentativen Umfrage zum Thema 2016 gaben in NRW nur noch zwölf Prozent der Befragten an, selbst aktiv einen Dialekt zu beherrschen, 43 Prozent meinten immerhin, den Dialekt ihrer Region passiv zu verstehen. Der Rückzug des regionalen Sprechens betrifft nicht alle Regionen gleichermaßen: Im Süden der Republik wird selbst von jungen Leuten oft noch mehr Dialekt gesprochen als im Norden. Es gibt auch Zeiten, in denen Mundart besondere Beachtung erfährt, im Karneval zum Beispiel. Wenn bei Partys plötzlich op Kölsch gegrölt, in Plattdeutsch gesungen wird. Weil es nun mal ein anderes „Jeföhl is“, wenn man gemeinsam mit anderen in „en Sproch“ verfällt. Doch das bleibt Ausnahme. Und wenn erst eine Generation aufhört, in der örtlichen Mundart zu sprechen, ist der Bruch kaum wieder zu kitten.

„Das ist natürlich ein großer Verlust an lokaler Identität und kulturellem Erbe“, sagt Stephan Elspaß, der nahe Düsseldorf aufwuchs, heute an der Universität Salzburg Germanistische Linguistik lehrt. „Früher hatte jedes Dorf seinen eigenen Dialekt, man konnte Menschen anhand ihrer Sprache genau verorten. Doch wenn das einmal verloren geht, lässt sich das Rad kaum zurückdrehen.“ Um dem Verlust der sprachlichen Vielfalt entgegenzuwirken, hat der Europarat vor 25 Jahren eine Charta verabschiedet, die etwa in Deutschland Minderheitensprachen wie Sorbisch, Dänisch, Friesisch, die von anerkannten nationalen Minderheiten gepflegt werden, und Regionalsprachen wie das Niederdeutsche, also alle Sprachformen, die in den tiefer gelegenen, „niederen“ nördlichen Regionen beheimatet sind, unter Schutz stellt. Die Charta empfiehlt zudem zahlreiche konkrete Schritte: Minderheitensprachen auf dem Amt anzuerkennen etwa oder Unterricht in Regionalsprache an der Schule anzubieten. In Norddeutschland gibt es darum Plattdeutsch als Schulfach, in NRW bisher nicht. Um das Inkrafttreten der europäischen Charta vor 25 Jahren zu würdigen, sprechen am 2. März Abgeordnete wie Stefan Seidler vom Südschleswigschen Wählerverbandes (SSW), der Partei der dänischen und friesischen Minderheit, auf Dänisch, Friesisch und Platt. Andere Abgeordnete wollen ihm folgen. Die Idee geht auf den Parlamentskreis Plattdeutsch zurück, den einige Abgeordnete und Muttersprachler unlängst gegründet haben.

„Solche Maßnahmen können die Wertschätzung einer Sprache und die Rechte ihrer Sprecher steigern“, sagt Elspaß, darum sei die Charta des Europarats mehr als eine wohlmeinende Erklärung. Allerdings bleibt bei der Vermittlung von Dialekten die mündliche Weitergabe in den Familien die wichtigste Voraussetzung für den Erhalt. Die Sprache in Theaterstücken, Romanen, im Schulunterricht gelegentlich anzuwenden, kann das nicht ersetzen. Doch gerade in den Familien ist der Bruch bereits geschehen, das Aussterben der Dialekte in vielen Gebieten Deutschlands kaum noch zu verhindern.

„Sprachen müssen Vorteile verschaffen, damit Menschen sie als Alltagssprache verwenden“, sagt Verena Krautwald, wissenschaftliche Referentin am LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte. „Dialekte helfen vielleicht im Gespräch mit den Großeltern, aber nicht im Supermarkt, nicht in der Schule oder dem Beruf, darum verschwinden viele Dialekte.“ Allerdings verschwänden sie oft nicht ganz, sondern hinterließen in den unterschiedlichen Regionen Deutschlands spezifische Spuren in der Standardsprache mit Begriffen, Redewendungen, grammatikalischen Strukturen. Außerdem könne man Situationen schaffen, in denen Dialekte plötzlich wieder wichtig würden. Krautwald nennt Karneval, Schützenfeste, St. Martins-Umzüge – also Momente im Jahreslauf, in denen Traditionen in den Alltag treten. Dann stiftet auch das traditionelle Sprechen zusätzlich Identität, ist ein Zeichen für die Verwurzelung in einer Gegend. „Mir sin Kölsche“ heißt es dann. Oder „Loop, Möller, loop.“

Begonnen hat der Rückzug der Dialekte im 19. Jahrhundert mit der Industrialisierung. Menschen wurden mobiler, zogen aus ihren Dörfern zum Arbeiten in die Stadt, mussten sich verständigen und glichen ihre Sprachformen an. Die spezifischen Ortsdialekte verschwanden, Ausgleichsmundarten entstanden. Sprachformen wie das Hötter Platt. Dagegen distanzierte sich das aufsteigende Bürgertum in den Städten, indem es das prestigereichere Hochdeutsch pflegte, Dialekte wurden zur Sprache der Arbeiter, Handwerker und Bauern. Damit begann die Abwertung der tradierten Art zu sprechen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg geriet der Dialekt mit dem wirtschaftlichen Aufschwung weiter unter Druck. „Eltern wurde in den 1960er Jahren in der Schule empfohlen, mit den Kindern lieber Hochdeutsch zu sprechen“, sagt Elspaß, „damit sie schulisch und beruflich keine Nachteile befürchten müssten.“ Die Vorteile, nämlich dass es Dialektsprechern einfacher fällt, Sprachen zu lernen, und dass sie sich im Platt mit ihren niederländischen Nachbarn unterhalten konnten, wurden dabei verschwiegen. So wurde aus einer über Jahrhunderte gepflegten Muttersprache, zu dem ab der Schulzeit das Hochdeutsche als erste Fremdsprache trat, etwas, das selbst in einer Region stark verwurzelte Menschen heute höchstens noch verstehen. Sprechen können sie es meist nicht mehr. Weitergeben damit auch nicht.

Über die Frage, ob sich in diesem Vakuum etwas Neues bildet, gibt es unter Linguisten unterschiedliche Auffassungen. So gibt es etwa die These, sogenanntes Kiezdeutsch, Varietäten des Deutschen, die von jungen Menschen aus Einwandererfamilien geprägt werden, seien neue Formen von Dialekt. Immerhin gibt es in Kiezdeutsch eigenständige Wörter, die oft aus anderen Sprachen abgeleitet sind, und typische Abwandlungen der hochdeutschen Grammatik. Elspaß sieht einen gewichtigen Einwand gegen diese These. „Kiezdeutsch wird in der Regel nur in einer bestimmten Lebensphase gesprochen. Wenn die Sprecherinnen und Sprecher älter werden, legen sie diese Sprache meist wieder ab und geben sie auch nicht an ihre Kinder weiter“, sagt Elspaß. Der Berufseinstieg sei oft der biografische Moment, ins Hochdeutsche zu wechseln. Das immerhin hätten Kiezdeutsch und traditioneller Dialekt dann doch gemein: Die Normen in der hochdeutschen Berufswelt lassen sie mehr und mehr verstummen.

„Dialekte haben eigentlich immer mit Geografie zu tun, sie sind Teil der regionalen sprachlichen Prägung“, sagt Sebastian Kürschner, Professor für Sprachwissenschaft an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Andererseits drückten sich über Variation in der Sprache auch andere soziale Faktoren aus: Zu welchen Kreisen man gehöre etwa oder wie zugehörig zur Mehrheitsgesellschaft Menschen sich fühlten. „Das trifft auch auf migrantisch geprägte Varietäten oder auf Jugendsprache zu“, sagt Kürschner. Den Begriff des Dialekts will auch er aus linguistischer Sicht dafür nicht verwenden, doch ähnlich wie bei Dialekten würden auch in der von Einwanderern oder ihren Nachkommen geprägten Sprache Identität, Individualität und Zugehörigkeitsgefühle verhandelt. Schließlich gehe es bei Sprache immer auch um das Bedürfnis, Unterschiede zu markieren und zu differenzieren. Bei traditionellen Dialekten geschah das von Dorf zu Dorf, heute sind es eher größere Regionen oder soziale Milieus, die sich voneinander abgrenzen.

Revitalisierungsversuche für Dialekte setzen meist erst ein, wenn es eigentlich zu spät ist, wenn also die Zahl der Sprecher schon stark gesunken ist. Dann dienen selbst Schulkurse, Bücher oder Theateraufführungen in Mundart eher der Dokumentation des Vergangenen. Als Reaktion auf die Globalisierung wird das Regionale, das Lokale, das, was Menschen prägt, heute wieder wichtiger. Viele kaufen nicht nur wieder Gemüse aus der Region, sie achten auch Dialekte und empfinden deren Verschwinden als Verlust. Plötzlich werden hippe Produkte mit Mundartaufdruck verkauft. Doch bleibt es damit bei Folklore. Kaum jemand scheint heute noch das Bedürfnis zu spüren, einen Dialekt wieder so zu lernen, dass er zur Sprache wird, in der man denkt und fühlt. So bleiben die Zeugnisse der Vergangenheit. Dokumente wie Werner Beutlings Buch in „Hötter Platt“, in dem nicht nur das Berichtete, sondern auch die Sprache selbst vom Leben der Glasmacher erzählt.

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