Ökonomen zu 30 Jahre deutsche Einheit „Die Demografie ist das Hauptproblem Ostdeutschlands“

Berlin · Führende Ökonomen sehen in der schnellen Alterung der Bevölkerung und der geringen Zuwanderung die größten Risiken für die wirtschaftliche Zukunft Ostdeutschlands. „Die Demografie ist in der näheren Zukunft das Hauptproblem Ostdeutschlands: Die Bevölkerung ist im Schnitt älter, die Erwerbsquote niedriger, Zuwanderer entscheiden sich eher für Westdeutschland“, sagte Oliver Holtemöller, Vize-Chef des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH).

 Passanten sitzen im Volkspark Großer Garten am Dresdner Carolasee auf einer Bank.

Passanten sitzen im Volkspark Großer Garten am Dresdner Carolasee auf einer Bank.

Foto: ZB/Sebastian Kahnert

„Eine spezielle Herausforderung haben die neuen Länder: die demografische Alterung. Hier muss nachhaltig gearbeitet werden, durch Familienfreundlichkeit, gute Infrastrukturnetze, herausragende Bildungsangebote und medizinische Versorgung“, sagte auch Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln.

30 Jahre nach der Einheit ist der Saldo der Binnenwanderung in Deutschland zwar ausgeglichen: Mittlerweile ziehen genauso viele Menschen innerhalb Deutschlands von Ost nach West wie von West nach Ost. Doch Ausländer meiden die neuen Länder. Vor allem Hochqualifizierte zieht es eher in die westdeutschen Wachstumsgebiete in Bayern, Baden-Württemberg, Hamburg oder Nordrhein-Westfalen.

„Man sieht es zum Beispiel an der Verteilung der Bluecards für Hochqualifizierte: Da kommen nur wenige in den ostdeutschen Flächenländern an“, sagte IWH-Ökonom Holtemöller. „Die neuen Länder werden die gesellschaftliche Stimmung ändern müssen, um mehr qualifizierte Zuwanderer zu gewinnen.“ Zudem sei die Schulabbrecherquote im Osten höher. „Ohne qualifizierte Menschen kein Wirtschaftswachstum und ohne Wachstum wird die Schere zwischen Ost und West wieder größer.“

Die wirtschaftliche Angleichung ist den Ökonomen zufolge in den vergangenen 30 Jahren gut vorangekommen. Die Wirtschaftskraft Ostdeutschlands erreicht heute im Schnitt fast 80 Prozent des westdeutschen Schnitts. Gestartet war die ehemalige DDR bei etwa 35 Prozent. Im laufenden Jahr könnte sich der Abstand weiter verringern, weil die ostdeutsche Wirtschaft etwas weniger unter der Corona-Krise leidet als die westdeutsche. Das Bruttoinlandsprodukt brach in den neuen Ländern ohne Berlin im ersten Halbjahr 2020 gegenüber dem gleichen Vorjahreszeitraum um 5,8 Prozent ein. In den westdeutschen Ländern gab es ein Minus von 6,7 Prozent.

„Die Wiedervereinigung ist ein wirtschaftlicher Erfolg. Natürlich gibt es wirtschaftliche Unterschiede zwischen Regionen in Deutschland“, sagte Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). „Es wäre falsch, von einem wirtschaftlichen West-Ost-Gefälle in Deutschland zu reden, vielmehr gibt es ein zunehmendes Süd-Nord-Gefälle.“ Manche Regionen im Ruhrgebiet oder in Rheinland-Pfalz seien wirtschaftlich schwächer als viele Regionen im Osten. „Einige Regionen im Osten, wie Leipzig oder Berlin, sind wirtschaftlich erfolgreicher als viele Regionen im Westen.“

Auch IW-Chef Hüther sagte: „Nach 30 Jahren haben wir weder einen Mezzogiorno noch Flieg-Drüber-Regionen oder Midlands.“

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