Alarmierende Studie über Missbrauch im Sport Sexueller Missbrauch beim Training

Köln · Laut einer Studie sind Übergriffe auf Kinder in Vereinen weit verbreitet. Verbände wehren sich gegen pauschale Kritik. Auf hochgerechnet rund 200.000 Betroffene bezifferte die „Sportschau“ die Zahl der Opfer in Deutschland.

 Olympiasiegerin Alexandra Raisman machte 2017 öffentlich, dass sie vom ehemaligen Team-Arzt der USA missbraucht wurde.

Olympiasiegerin Alexandra Raisman machte 2017 öffentlich, dass sie vom ehemaligen Team-Arzt der USA missbraucht wurde.

Foto: imago/ZUMA Press/imago sportfotodienst

Sexueller Missbrauch im Sport ist einer Studie zufolge ein weitgehend verdrängtes Problem großen Ausmaßes. Auf hochgerechnet rund 200.000 Betroffene bezifferte die ARD-„Sportschau“ die Zahl der Opfer in Deutschland. Sie zitierte in dem am Samstag ausgestrahlten 45-minütigen Beitrag „Das große Tabu“ eine noch unveröffentlichte Studie der Uniklinik Ulm, über die die Tageszeitung „Die Welt“ zuerst berichtet hatte. „Wir haben eine Bewusstseinsentwicklung nötig in diesem Bereich“, sagte der Ulmer Kinder- und Jugendpsychiater Jörg Fegert.

Für die Studie waren rund 2500 Menschen zu ihren Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch in Kindheit und Jugend befragt worden. Bereits vor drei Jahren hatte die Uniklinik 1800 Leistungssportler befragt. Mehr als ein Drittel berichtete, „sexuell übergriffige Dinge“ erlebt zu haben. Fegert sagte: „Da waren wir schon entsetzt. Wenn man es sehr eng nimmt, haben drei Prozent sexuelle Übergriffe mit Penetration erlebt, schwerste Taten. Aber es kommt natürlich ein großes Feld von ungewollten Berührungen dazu.“

Eine Untersuchungskommission der Bundesregierung hatte im Mai auf die Problematik im Sport aufmerksam gemacht. Die Kommissionsvorsitzende Sabine Andresen kritisierte, dass Anhörungen sowie Berichte von Betroffenen und in Medien darauf hinwiesen, „dass es hier einer unabhängigen Aufarbeitung bedarf, die in den Strukturen des Freizeit- und Leistungssports bisher noch nicht ausreichend vorgesehen ist“.

Der Deutsche Olympische Sportbund versicherte, dass „die Weiterentwicklung der Prävention von sexualisierter Gewalt im Kinder- und Jugendsport bei uns einen hohen Stellenwert hat“. Alfons Hölzl, der Präsident des Deutschen Turner-Bundes, wies in einem Beitrag für das „Turn-Magazin“ darauf hin, dass das Bundesinnenministerium Präventionskonzepte und Eigenerklärungen als Fördervoraussetzungen von allen Sportverbänden verlange.

Der Landesportbund NRW wehrt sich gegen Vorwürfe, der organisierte Sport würde nicht ausreichend gegen sexuellen Missbrauch vorgehen. „Weil sexualisierte Gewalt leider überall und somit auch im Sport anzutreffen ist, hat sich der Landessportbund NRW seit mittlerweile über zwei Jahrzehnten erfolgreich auf die Fahnen geschrieben, unsere Vereine und Verbände in Fragen der Prävention sowie der angemessenen Handlungsmöglichkeiten beim Erkennen von Missbrauchsfällen zu beraten“, betont LSB-Präsident Walter Schneeloch im Gespräch mit unserer Redaktion. „Die konkrete Unterstützung umfasst ein vielseitiges Aktionsprogramm mit Maßnahmen – vom Elternratgeber über regelmäßige Informationsveranstaltungen bis zur Qualifizierung von geeigneten Ansprechpersonen – immer mit dem klaren Ziel, dass wir uns als organisierter Sport für den notwendigen Schutz stark machen und dieses sensible Thema enttabuisieren. In erster Linie muss ein Klima von Achtsamkeit und Vertrauen aufgebaut werden, um möglichst jegliche Form von Grenzverletzungen vermeiden zu können.“

Und auch der Fußballverband Niederrhein (FVN) glaubt, sich ausreichend mit der Thematik zu beschäftigen. „Jeder Fall ist ein Fall zu viel“, sagt FVN-Präsident Peter Frymuth. „Es gibt bei uns Anlaufstellen für Vereine und Betroffene. Wir garantieren den Vertrauensschutz und arbeiten eng mit anderen Verbänden zusammen. Natürlich darf es keine Tabus geben und natürlich müssen wir uns dem Thema stellen. Das ist überhaupt keine Frage. Es ist aber in den vergangenen Jahrzehnten einiges passiert und wir nehmen das Thema ganz bestimmt ernst. Ein Vertuschen darf es auf keinen Fall geben.“

In der ARD-Sendung wurden unter anderem Fälle aus einem Turnverein in Weimar und aus dem Reitsport genannt. Die Deutsche Reiterliche Vereinigung (FN) wehrte sich gegen den Vorwurf, einen Fall sexuellen Missbrauchs nicht konsequent aufgearbeitet zu haben. Die „Sportschau“ zitierte anonym den Vater eines Opfers mit der Aussage, dass die FN nicht auf seine Familie zugekommen sei: „Ich habe mich sofort gefragt, auf welcher Seite der Verband steht. Auf der Seite des Opfers oder auf der Seite des Täters?“

In einer Pressemitteilung schrieb die FN dazu: „Wir bedauern es, dass mehrere Kontaktaufnahmen von Seiten der FN und des zuständigen Landesverbandes mit der Opferfamilie im Januar 2013 sowie im August 2014 als nicht ausreichend wahrgenommen wurden.“ Der TV-Beitrag kritisiert zudem, dass der beschuldigte Reiter wieder für Deutschland antreten durfte. „Heute würden wir mit einem wie im Beitrag geschilderten Fall anders umgehen“, teilte die FN mit.

International wurde das Problem durch Fälle aus den USA deutlich. Der ehemalige Turn-Verbandsarzt Larry Nassar war seit Sommer 2017 in drei Urteilen für den Missbrauch teils minderjähriger Opfer zu bis zu 175 Jahren Haft verurteilt worden. Im US-Leistungssport sind einer Aufstellung der Trainer-Webseite greatcoach.com zufolge inzwischen fast 1000 Coaches aus olympischen Sportarten wegen Vorwürfen sexueller Übergriffe, Dopingvergehen oder anderer Straftaten verbannt worden.

(mit dpa)
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