WM-Tagebuch Laut. Lauter. Sotschi.

Sotschi · Unser Autor kann sich im Hotel in Sotschi der pausenlosen Beschallung nicht erwehren. Und dem Blick auf einen Animateur im Bärenkostüm bei 30 Grad.

Touristen am Strand von Sotschi.

Touristen am Strand von Sotschi.

Foto: dpa/Christian Charisius

Mein Tag beginnt mit Musik. Das ist doch schön. Im Frühstücksraum rieselt eine betörende Mischung aus hausgemachter Ibiza-Disco-Chill-out-Lala aus den Lautsprechern, dass ich mir vorkomme wie im Aufzug oder im Supermarkt. Nur die Lautstärke ist geringfügig höher, denn Russen im Allgemeinen und russische Hotel- oder Gastronomiebetreiber haben ein sehr aufgeklärtes Verhältnis zur Phonzahl. Es lässt sich am besten so zusammenfassen: Man soll die Musik schon hören. Auch in ein paar hundert Meter Entfernung. In dieser Hinsicht sind sie gar nicht anders als die Brasilianer.

In der Auswahl der Musikstile sind sie allerdings, wenn ich das sagen darf, weniger wählerisch. Im Moskauer Hotel zum Beispiel besteht die Frühstücksbeschallung aus einer großzügigen Mischung. Sie reicht von 50er-Jahre-Schlagern über handgemachten Jazz-Rock bis zum schönen Kirchenlied "In dulci jubilo", das es aus dem 15. Jahrhundert bis in den Speisesaal des Jahres 2018 geschafft hat. Ich denke dabei immer an Weihnachten.

Die Grashalm-Frage

In Sotschi kommen bislang keine Kirchenlieder vor. Dafür schmettert Julio Iglesias seine "Moonlight Lady" über den weitläufigen Platz vor meinem Fenster, der in den Stunden zwischen Frühstück und Mittagshitze immer ein bisschen verwaist ist, untermalt von den kreischenden Geräuschen, die Hubwagen auf leicht unebenen Steinwegen verursachen. Mit den Hubwagen bringen fleißige Angestellte Nachschub an Getränken und Speisen. Das finde ich wiederum sehr verdienstvoll.

Ebenso verdienstvoll ist die Arbeit des Hotelgärtners, dessen berufliches Anforderungsprofil offenbar vorsieht, immer zwischen 10.30 und 11.30 Uhr den spärlichen Rasen zwischen den gepflasterten Wegen zu mähen. Täglich, versteht sich. Vielleicht schreibt die Fifa auch hier die Länge der Grashalme präzise vor. Das wäre ja nur gerecht. Und vielleicht kontrolliert die DFB-Delegation den korrekten Schnitt. Gestern waren jedenfalls mal die Herren Sebastian Rudy, Joshua Kimmich und Mario Gomez zu Besuch. Rudy und Kimmich kamen mit dem Segway, Gomez mit einem Elektroroller. Wahrscheinlich hat sie der Jogi geschickt.

Heute sind sie nicht gekommen. Es kann ja sein, dass der Gärtner inzwischen selbst weiß, wie lang die Halme sein dürfen. Während ich am Schreibtisch sitze, kräht irgendwer draußen aus den Lautsprechern, er liebe irgendeinen anderen "genau, wie du bist". Ich weiß jetzt nicht, an wen die Botschaft geht. Außerdem begradigt der Gärtner die Rasenkanten mit einem dieser Geräte, die aussehen wie ein Fahrradlenker mit Motor. Inzwischen verstehe ich auch, warum die Musik immer noch ein bisschen lauter gedreht wird.

„Macarena“ bei 30 Grad im Schatten

Erst am Nachmittag geht der Spaß so richtig los. Ganz genau vor meinem Fenster steht eine Bühne. Auf der Bühne befinden sich mächtige Boxen. Aus denen rappelt "Macarena" in einer Lautstärke, die noch im Abstand von 20 Metern zur Rampe die Haare fönt. Ich habe zum Glück einen eher seitlichen Blick aufs Geschehen. Ich kann deshalb ohne ausdauernden Schaden am Trommelfell miterleben, wie ein baumlanger Mensch in einem Bärenkostüm ausdrucksvoll zu Macarena herumhampelt. Unter dem Fell ist es bei 30 Grad im Schatten sicher angenehm warm. Ein paar Kinder vor der Bühne bestaunen huldvoll die Darbietung.

Besser finden sie die Tanzübungen des Animationsteams, das für den abendlichen Auftritt probt und die Boxen dabei einem ultimativen Belastungstest unterzieht. Und ganz begeistert sind sie von der kleinen Märchenstunde am frühen Abend. Ich glaube, es geht um den Froschkönig. Dass der laute Musik mag, wusste ich noch nicht. Aber das ist möglicherweise die russische Variante. Der Abend klingt mit der Tanzdarbietung des Animationsteams aus. Die Boxen müssen unterdessen glühen, und ich fürchte um die Fensterscheiben in meinem Wohnblock. Aber alles geht gut. Um 23 Uhr zieht einer den Stecker. In meinen Ohren summt es. Ich freu mich auf Ibiza-Sound zum Frühstück.

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