WM-Tagebuch Alexander zum zweiten

Moskau · Sotschi ist ein Ferienparadies nach russischem Geschmack. Die Hotels sind groß, die Zufahrtstraßen breit, die kleinen Gassen voller Geschäfte. Zudem hatte unser Autor dort eine erneute Begegnung mit Alexander.

 Das Teamhotel der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. Palmen säumen den Strandzugang vor der Hotelanlage des Radisson Blue an der Strandpromenade der Schwarzmeerküste von Adler.

Das Teamhotel der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. Palmen säumen den Strandzugang vor der Hotelanlage des Radisson Blue an der Strandpromenade der Schwarzmeerküste von Adler.

Foto: dpa/Christian Charisius

Mein Flug geht in zweieinhalb Stunden. Aber vor der Tür zum Flugzeug drängen sich schon die Kunden. Viele Familien mit kleinen Kindern, Herren in kurzen Hosen, mancher mit einem schmucken Strohhut. Für sie geht es in die Ferien, von Moskau nach Sotschi ans Schwarze Meer. Und sie können es gar nicht erwarten. Mütter beruhigen die lieben Kleinen, indem sie ihnen was vom Strand erzählen, von der Sonne und von Gummireifen. Ich glaube jedenfalls, dass sie das tun. Die WM spielt hier eine eher untergeordnete Rolle.

Auch im Flugzeug geben die Kinder den Ton an. Nach einer Stunde zieht die unvermeidliche Karawane der Dreikäsehochs durch den Gang, verfolgt von besorgten Erziehungsberechtigten, die dann und wann kleine Hebefiguren auf engstem Raum aufführen. Man merkt schon, dass Eiskunstlauf zu den wichtigen Sportarten in Russland zählt.

Ein Kind schreit die ganzen zweieinhalb Stunden durch, die der Flug dauert. Wahrscheinlich hat man ihm die erste Halbzeit der Deutschen gegen Mexiko noch einmal gezeigt. Ich bewundere derweil die Eleganz der Kabinenbesatzung, die mit großer Geste die Wahl zwischen Wasser ohne Kohlensäure und Wasser ohne Kohlensäure lässt. Ich entscheide mich für einen Becher Wasser ohne Kohlensäure.

Sotschi ist ein Ferienparadies nach russischem Geschmack. Die Hotels sind groß, die Zufahrtstraßen breit, die kleinen Gassen voller Geschäfte, in denen es vom gegrillten Fisch über sehr farbige Bademoden und allerlei postolympischen Kitsch bis zu Ständen mit Oliven und eingelegtem Gemüse so ziemlich alles gibt, was das Touristenherz begehrt.

Die WM begegnet mir im Hotel wieder. Sie kommt in Gestalt von Alexander daher. Ich scheine Menschen mit solchen Vornamen anzuziehen. In Moskau hatte ich Alex, den Mexikaner kennengelernt, der so etwas wie der Roadmanager einer Mariachi-Band war. Ob Alexander etwas mit Musik zu tun hat, ist nicht herauszufinden. Denn Alexander ist in das Spiel der russischen Mannschaft vertieft, das in einer Bar auf fünf Großbildschirmen übertragen wird.

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Foto: AP/David Vincent

Alexander trägt ein graues Trikot mit der Rückennummer 17, und er taucht ganz tief ein in die Begegnung mit Ägypten. Alexander ist ein temperamentvolles Kerlchen. Die Entscheidungen des Schiedsrichters kommentiert er lautstark und in der Regel äußerst unzufrieden. Aussichtsreiche Aktionen der russischen Mannschaft heben ihn zuverlässig aus dem Sessel. Und aussichtsreich wird es spätestens beim Überqueren der Mittellinie. Alexander stürmt nicht selten mit. Und als die Russen in Führung gehen, ist er wirklich nicht mehr zu halten. Ein kurzer Sprint nach vorn, Kuss auf den Bildschirm, Sprint zurück, Sprint nach rechts, 20 Sprünge auf der Stelle, und weil er gar nicht weiß, wohin mit all der Freude, schließt er meinen Freund Hartmut Scherzer in die Arme, der so etwas in seinen 15 Weltmeisterschaften noch nicht erlebt hat und der es gerührt über sich ergehen lässt.

Auf dem Rückweg zu seinem Stuhl erkennt Alexander, dass seine Frau neben ihm sitzt. Und natürlich küsst er sie auch noch schnell. So viel Zeit muss sein.

Dann ist das Spiel wieder die Hauptsache. Es bleibt sehr erfreulich für Alexander und etwa 60 Mitreisende, die mit Plastikklatschen in den Nationalfarben begeistert Beifall spenden und in Sprechchören ihre Lieblinge feiern. Der Krach in der Bar übertönt lässig die Geräuschkulisse von der nahegelegenen Kinderbelustigung, wo kleine Menschen zu Bum-Bum-Musik in der Lautstärke eines startenden Flugzeugs auf einer Bühne tanzen. Gegen Alexander und seine Freunde in der Bar haben die Schallwellen keine Chance.

Das zweite Tor veranlasst Alexander zu einem Sprint durchs ganze Lokal, Usain Bolt würde grün vor Neid. Beim dritten Tor bin ich an der Reihe. Alexander drückt mich an seine starke Brust und brüllt mir irgendetwas ins Ohr. Das Gegentor lässt ihn ganz kurz verzweifeln. Mit bangen Rufen begleitet er die Schlussphase. Als alles vorbei ist, entdeckt er seine Frau wieder. Sie geleitet ihn ins Zimmer. Heute Nacht schläft er bestimmt gut.

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