WM-Tagebuch Die eigenen Wahrheiten sind doch die besten

Moskau · Der Fußball wird immer mehr technisiert. Das führt zwar zu ulkigen Fantasien, ist im Endeffekt aber nur etwas für Kontrollfreaks.

 WM-Reporter Robert Peters bei der Arbeit.

WM-Reporter Robert Peters bei der Arbeit.

Foto: Peters

Fußball ist neuerdings ein Fall für die Wissenschaftler. Nicht nur für Frau und Herrn Professor, die einen Teil ihrer spärlich bemessenen Freizeit im Trikot der Nationalmannschaft auf den WM-Tribünen verbringen. Nein, auch für richtige Fußball-Wissenschaftler, die jede Bewegung protokollieren und Datenmengen erheben, dass zumindest mir schwindlig wird.

Weil die Deutschen in jeder Beziehung immer noch ein bisschen perfekter sein wollen als der Rest der Welt, hat der DFB einen Vertrag mit einem großen Softwareunternehmen, das einst den Mäzen der TSG Hoffenheim reich machte und nun unter anderem für den größten Sportverband der Welt Daten sammelt. Dass dieses Unternehmen einer der Sponsoren des Verbands ist, gehört zu den Zufällen, die überhaupt nicht zufällig sind.

Vergangene Woche haben die Datenerheber einen kleinen Einblick in ihr erstaunliches Schaffen gewährt. Und sie haben verraten, dass jeder Nationalspieler auf einer Plattform im Internet sehen kann, was für einen Unsinn er sich zuletzt zusammengespielt hat oder wem der Gegner XY am liebsten den Ball durch die Beine passt. Das diene der individuellen Vorbereitung, hieß es, und dass sich die Plattform großer Beliebtheit bei den Spielern erfreue.

Ich stellte mir vor, wie (nur zum Beispiel) der Mesut Özil mit seinen Kumpels im Wohnzimmer sitzt und sich auf einem kleinen Computerbildschirm vorrechnen lässt, dass er den Ball 30 Meter vor dem Tor am besten steil spielt, dass er den Fuß beim kurzen Pass in einem Winkel von 45 Grad zu halten hat oder dass er mal gerade gehen soll, weil die hängenden Schultern so traurig aussehen. Ich gebe zu: Das fällt mir schwer.

Zum einen, weil Özil vermutlich seit den seligen Kindheitstagen auf dem Bolzplatz in Gelsenkirchen-Bulmke den Fuß beim Abspiel so hält, wie er ihn eben hält, und weil er von Geburt ein Bewegungs-Melancholiker ist. Zum anderen, weil mir mal jemand erzählt hat, dass er Özil zu dessen Bremer Bundesligazeiten besuchen durfte. Das sehr großzügig bemessene Wohnzimmer in einem vornehmen Bremer Stadtteil hatte der Fußballer mit einem Fernseher von Kino-Leinwand-Ausmaßen, einer Couch und seiner Playstation möbliert. Daran wird sich vermutlich nur wenig geändert haben. Ein Technik-Feind ist er also nicht.

Aber auf die Playstation spielen die Wissenschaftler die Daten nun mal nicht. Und Özil vertraut beim Fußball seinem Gefühl. Das hat er gemein mit jenen Menschen, die auf dem Platz standen, als Computer ihnen noch nicht erzählen konnten, wann zu Hause der Rasen gemäht werden muss, wie man den kürzesten Weg von Goch nach Kleve findet, ob es in Regensburg gerade regnet oder schneit oder wann es aufhört, zu regnen. Sie konnten auch ohne eine kleine Mannschaft von Analysten feststellen, ob ein Schuss zu hoch, zu flach oder ganz einfach zu schlecht war. Sie machten Dribblings, weil es ihnen gerade einfiel. Und sie hatten Erfolg, weil sie ihr Spiel aus dem Bauch betrieben.

Für Kontrollfreaks ist das wahrscheinlich verdächtig, weil es aus dem Spiel ein Geheimnis macht, über das Daten nichts verraten. Ich finde es gut, weil ich mir weiter meine eigenen Wahrheiten machen kann, die ich mir doch von ein paar Passquoten nicht erschüttern lasse. So sind wir Fußballfans nun mal. Die Wohlerzogenen unter uns, dazu rechne ich mich unbedingt, gestehen anderen Fußballfans zwar zu, ihre Meinung zu sagen. Im Stillen aber denken wir alle: Weiß ich sowieso besser. Stimmt ja auch.

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