Mehrheit im Parlament: Bundestag beschließt umstrittene Reform des Klimaschutzgesetzes
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Wahlrechtsreform Bundestag droht auf 700 Abgeordnete anzuwachsen

Berlin · Das Erstarken der AfD zwingt die Parteien zu einer schnellen Wahlrechtsreform, um ein von 598 auf über 700 Sitze aufgeblähtes Parlament in letzter Minute zu verhindern. Auch Union und SPD geben nun ihre Zurückhaltung auf und sind bereit, noch vor der Sommerpause die Berechnung der Mandate zu korrigieren.

 Ein Blick in den Bundestag.

Ein Blick in den Bundestag.

Foto: dpa, Tim Brakemeier

Mit jedem Prozentpunkt mehr für die AfD und jedem Prozentpunkt weniger für Union und SPD wächst die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Zahl der so genannten Überhangmandate erhöht, die nach dem geltenden Wahlgesetz durch ein kompliziertes Verfahren durch Ausgleichsmandate zu einem Bundestag führt, der exakt der Kräfteverteilung im Zweitstimmenverhältnis entspricht. Damit kam der letzte Bundestag einer Auflage des Verfassungsgerichtes nach. Dieses hatte das verfassungsrechtlich festgeschriebene gleiche Gewicht jeder einzelnen Stimme verletzt gesehen, als bei einer Nachwahl, die durch den Tod eines Kandidaten in Dresden notwendig geworden war, die Wähler durch Stimmen für die eine Partei diese schwächen und eine andere stärken konnten. Ein solches "negatives Stimmengewicht" sei mit der Verfassung unvereinbar, entschieden die Karlsruher Richter.

Überhang- und Ausgleichsmandate

Die Folge war ein kompliziertes Verfahren, durch das die Zusammensetzung des Bundestages auf jedes Überhangmandat durch Ausgleichsmandate reagiert und dabei sowohl die Zweitstimmen auf Bundesebene, das Ergebnis auf Länderebene und die Zahl der Wahlberechtigten in jedem Land mit einbezieht. Überhangmandate entstehen immer dann, wenn eine Partei über die Erststimmen in den einzelnen Wahlkreisen mehr Abgeordnete direkt ins Parlament bringt, als ihr eigentlich nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen. Wenn wir beispielsweise ein Bundesland nehmen, in dem eine Partei im Schnitt 33 Prozent der Stimmen erhält, stünden ihr folglich auch nur ein Drittel der in dem Land zu vergebenden Mandate zu, also drei von neun. 33 Prozent bei den Erststimmen können in den neun Wahlkreisen des Landes aber durchaus reichen, um in jedem Wahlkreis im Vergleich zu den Kandidaten der anderen Parteien jeweils vorne zu liegen. Diesen direkt gewählten Kandidaten können ihre Mandate nicht mehr entzogen werden. Somit sind in diesem Beispiel bereits sechs Überhangmandate entstanden.

Der Bundestag besteht theoretisch aus 299 direkt in den 299 Wahlkreisen gewählten Abgeordneten und weiteren 299 Abgeordneten, die über die Landeslisten einziehen. Alle 598 Abgeordneten zusammen müssen von ihrer Parteizugehörigkeit her jedoch dem bundesweiten Zweitstimmenergebnis entsprechen. Deshalb wurde 2013 für jedes der vier entstandenen Überhangmandate so lange Ausgleichsmandate an die Landeslisten vergeben, bis einerseits der bundesweite Proporz gegeben war und durch die zusätzlichen Sitze sowohl das Kräfteverhältnisse innerhalb der Länder als auch ihr Anteil an den Wahlberechtigten widergespiegelt wurden. Dadurch entstanden 28 Überhangmandate. Wenn schon bei einer Wahl mit einer in den Zweitstimmen wie Erststimmen klar dominierenden Union und nur drei anderen Parteien vier Überhangmandate den Bundestag um 32 Abgeordnete größer machten, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass 2017 bei einer geschwächten Union nicht nur deutlich mehr Überhangmandate entstehen, sondern durch den Einzug von AfD und FDP auch immens mehr Ausgleichsmandate entstehen. Die Berechnung ist kompliziert, aber Schätzungen gehen davon aus, dass ein Anwachsen des Parlamentes von 598 auf über 700 Abgeordnete realistisch sein könnte, im ungünstigsten Fall könnte der nächste Bundestag auch auf 800 Abgeordnete anwachsen.

Lammert stößt auf offene Ohren

Deswegen hatten alle Bundestagsparteien offene Ohren, als Bundestagspräsident Norbert Lammert nun alle Fraktionschefs zusammen rief, und energisch vor der Gefahr eines völlig überdimensionierten Bundestages warnte, wenn nicht noch in aller Schnelle das Wahlgesetz geändert wird. Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch sagte unserer Redaktion: "Ausnahmsweise bin ich hier für eine Obergrenze." Er unterstütze Lammerts Ziel, dass am Ende die Anzahl der Abgeordneten nicht zu stark über den gesetzlich angepeilten 598 liegen sollte. SPD-Fraktionsvize Eva Högl fasst zusammen: "Alle Fraktionen können kein Interesse an einem aufgeblähten Bundestag haben." Deshalb sei es gut, wenn der Bundestagspräsident dazu jetzt Vorschläge mache. Allerdings gebe es über den Weg dorthin noch "keine Verständigung".

Britta Haßelmann, die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, holte einen Gesetzentwurf aus der letzten Wahlperiode heraus, der die Zwischenverrechnungen auf Länderebene auslässt und direkt bundesweit zum Ausgleich von Überhangmandaten kommt. Das trifft jedoch bei den großen Parteien mit starken Landesverbänden auf Missfallen. Denn diese Berechnung könnte dazu führen, dass etwa eine bei den Zweitstimmen in Hessen stark abschneidende Partei trotzdem kaum Kandidaten von der Landesliste durchbringt, nur weil ihre Parteifreunde in Niedersachsen schwach bei den Zweitstimmen waren und deswegen mehr Kandidaten über die Erststimmen durchbrachten.

"Obergrenze nicht zu machen"

Für Haßelmann ist klar, dass jedes Alternativ-Modell das Zweitstimmenergebnis am Ende "eins zu eins abbilden muss". Das einfache Einziehen einer Obergrenze sei somit "nicht zu machen". Ihre Empfehlung, dann halt über eine Reduzierung der Zahl der Wahlkreise nachzudenken, teilen die anderen Parteien auch nicht. Da müssten dann viele Direktkandidaten um ihre Wiederwahl fürchten, gewachsene Organisationen und Strukturen kämen durcheinander. Schon die Reaktion auf die Bevölkerungsentwicklung ist eine komplexe Angelegenheit: Weil es weniger Thüringer und mehr Bayern gibt, muss Thüringen bei der Wahl 2017 einen Wahlkreis an Bayern abgeben, weswegen zahlreiche Wahlkreisgrenzen in beiden Ländern neu zu ziehen sind.

Gleichwohl wollen die Parteien die Reform, und zwar schnell. "Es darf nicht sein, dass der Bundestag immer größer wird", sagt der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion, Thomas Strobl. Irgendwo müsse Schluss sein mit der Zahl der Abgeordneten, und zwar nicht erst bei 700, sondern "deutlich früher". Wenn Union und SPD in der Koalition und dann bei Gesprächen mit der Opposition Tempo machten und gute Vorschläge auf dem Tisch lägen, sei das noch hinzubekommen. "Wenn es schon für die nächste Legislaturperiode gelten soll, müssen wir richtig Vollgas geben", erklärt Strobl. Es wäre "sportlich", die Reform noch vor der Sommerpause zu verabschieden.

Enger Rahmen

Strobl verweist auf den "engen verfassungsrechtlichen Rahmen", den das Bundesverfassungsgericht gezogen hatte. Im Kleingedruckten steht indes eine mögliche Lösung. Es sei hinnehmbar, wenn Überhangmandate bis zur Hälfte einer Mindestfraktionsstärke nicht ausgeglichen würden, urteilten die Richter. Da eine Fraktion mindestens fünf Prozent aller Abgeordneten umfassen muss, wären das bei 598 Abgeordneten 14 Überhangmandate, bei einem größeren Bundestag auch mehr. Ein erster Schritt gegen einen aufgeblähten Bundestag.

(may-)
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