Analyse Neu-Damaskus in Deutschland?

Berlin · Die Chefin einer Berliner Denkfabrik und ein österreichischer Schriftsteller schlagen vor, dass Flüchtlinge in Deutschland ihre Heimat nachbauen. Sie verweisen dabei auf Little Italy in New York oder New Hannover in New Hampshire. Gelingen könnte das aber wohl nur mit erheblichen Eingriffen des Staates.

 So könnte eine Flüchtlingsstadt vom Reißbrett aussehen.

So könnte eine Flüchtlingsstadt vom Reißbrett aussehen.

Foto: V-Consult

Wenn es um Flüchtlinge geht, rufen die Wohlmeinenden nach Integration, die Ängstlichen nach Stacheldraht. Auf eine dritte, überraschende Möglichkeit haben jetzt in der deutschsprachigen Ausgabe von "Le Monde diplomatique" zwei Intellektuelle hingewiesen: Ulrike Guérot, Direktorin der Berliner Denkwerkstatt "European Democracy Lab", und der österreichische Schriftsteller Robert Menasse. Nicht nur, dass sie sich in ihrem Aufsatz für "europäische Grenzenlosigkeit" aussprechen - sie plädieren dafür, dass Flüchtlinge in den Zufluchtsstaaten ihre Heimat nachbilden.

Little Italy in New York

Sie weisen hin auf Little Italy und Chinatown in New York, auf New Hannover, New Hampshire und New Hamburg und den historischen Erfolg dieser Art von Zuwanderung: "Die Italiener haben in Little Italy ein ganzes Stadtviertel okkupiert. Niemand ist damals auf die Idee gekommen, Familien zu trennen oder in verschiedene Unterkünfte einzuquartieren oder über Familiennachzug zu feilschen. Niemand hat einen Asylbewerberstatus bekommen, staatliches Geld erhalten, wurde auf einen Sprachkurs oder gar eine ,Leitkultur' verpflichtet. Die europäischen Flüchtlinge sind einfach in einer neuen Heimat angekommen und haben dort ihre alte Heimat nachgebaut."

Neu-Erbil für die Kurden?

Daraus, so folgern die Autoren, könnten wir lernen. Und sie werden konkret: "Wie wäre es, wenn Flüchtlinge in Europa Bauland zugewiesen bekämen, benachbart zu den europäischen Städten, aber in einem Abstand, der die Andersartigkeit wahrt?" Solchermaßen sehen sie bereits Neu-Damaskus und Neu-Aleppo für die Syrer entstehen, dazu Neu-Erbil und Neu-Dohuk für die Kurden, Neu-Kandahar für die Afghanen und Neu-Ondo für die Nigerianer.

Die Vorstellung klingt originell: Da die Flüchtlinge ihre Behausungen selbst erbauen, liegen sie niemandem auf der Tasche und werden dadurch auch nicht gegen "das untere Viertel unserer Gesellschaft" ausgespielt, das bezahlbaren Wohnraum sucht. Und die Immigranten werden keinem Dorf zugewiesen, das sie ablehnt.

Wo bleibt die Gleichheit?

Doch je weiter man sich in die Vorschlagsliste vertieft, desto mehr kräuselt sich einem die Stirn. "Die syrischen Ärztinnen sind wieder Ärztinnen, ohne eine deutsche Approbation zu benötigen, die kurdischen Lehrer sind wieder Lehrer, die Rechtsanwältinnen, die Bäcker und so weiter. Dabei gilt das Recht der EU für alle", heißt es im Aufsatz. Rechtsgleichheit - das ist wichtig. Hinzu kommen "statt Leitkultur Bürgerrechte für alle".

Doch wo bleibt die Gleichheit bei den syrischen Ärzten, die hier ohne deutsche Approbation arbeiten wollen? Wer haftet in diesem Staat im Staate, wenn bei der Behandlung etwas schiefgeht? Wer trägt die Kosten, wenn ein Bewohner auf eine aufwendige Operation außerhalb des Ghettos angewiesen ist? Und wer achtet darauf, dass sich unter die Lehrer nicht der ein oder andere Hassprediger mischt?

Geld als Starthilfe

Ganz ohne Kosten wird im Übrigen auch der Aufbau Neu-Damaskus' nicht vonstatten gehen können. Wenn der Gleichheitsgrundsatz gelten soll, dann wird Neu-Damaskus auch die Bauvorschriften und Brandschutzbestimmungen der Welt ringsum einhalten müssen. Wie die Fachkräfte bezahlt werden sollen, darauf haben Guérot und Menasse allerdings ebenfalls eine Antwort parat: "Das Geld, das wir jetzt ausgeben für Integrations- und Sprachkurse, für Zäune und Grenzschutz, für Sicherheitsmaßnahmen oder Polizei, gibt Europa den Flüchtlingen als Starthilfe."

Die Utopie, die dahintersteckt, sieht so aus: Die Bewohner neuer und alter Städte vermischen sich; Neuankömmlinge finden in benachbarten Städten Arbeit, deren Einwohner entdecken im Gegenzug die hippen Cafés in Neu-Damaskus. Für Studenten gibt es dort preisgünstigen Wohnraum. Drei Generationen später haben die Kindeskinder der ersten Generation die Sprache der neuen Heimat gelernt, und weitere 100 Jahre später erinnert nur noch der Stadtname daran, dass die Gründer einst aus einer anderen Welt kamen.

Historische Beispiele

Nun gut, es gibt solche Erfolgsgeschichten. Ein Beispiel sind in Deutschland die Hugenotten. Im 17. Jahrhundert flohen diese Protestanten vor der Verfolgung im katholischen Frankreich etwa nach Berlin und setzten dort mit einer nüchternen klassizistisch-barocken Gestaltungsweise auch architektonische Zeichen. Der Französische Dom geht wie der Gendarmenmarkt auf Hugenotten zurück, ebenso die Karlskirche in Kassel und die lutherische Kirche in Amsterdam. Die Hugenotten aber kamen als Christen in ein christliches Land. Syrer, Kurden, Afghanen, Iraker und Nordafrikaner dagegen entstammen einer anderen Kultur und sind untereinander oft religiös zerstritten.

Der Kulturwissenschaftler Gerhard Schweizer, der den Nahen Osten ausgiebig bereiste, bevor der zum Kriegsgebiet wurden, weist in seinem kürzlich aktualisierten Buch "Syrien verstehen" darauf hin, wie sehr die unterschwelligen Fronten zwischen Sunniten, Schiiten, Alawiten, Drusen und Jesiden das Leben erschweren. Es gehört keine prophetische Gabe dazu festzustellen, dass diese Fronten auch Neu-Damaskus vom ersten Tag an belasten würden.

Wie also stehen die Chancen, dass der Vorschlag von Guérot und Menasse verwirklicht wird? Unabdingbare Voraussetzung wäre, dass ein solches Projekt jedermann offensteht. Auch Deutschen und Angehörigen anderer bei uns lebender Nationalitäten müsste sich in Neu-Damaskus die Möglichkeit bieten, preisgünstigen Wohnraum zu erwerben. Zwangsverheiratungen müssten ebenso tabu sein wie die Tätigkeit sogenannter Friedensrichter, die eine rechtmäßige Bestrafung durch den Staat verhindern. Es gibt viele Wenns und Abers bei einem solchen Projekt. Es wäre auch die Parallelgesellschaft pur. Trotz ihrer Schwächen dürfte eine forcierte Integration die bessere Lösung sein.

(B.M.)
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