Schutz vor Corona Kritik an Auffrischimpfung für alle

Berlin · Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) will allen Menschen eine Auffrischimpfung gegen Corona anbieten. Kritik regt sich bei Ärzteverbänden und Pflegeexperten.

 Die Bewohnerin eines Pflegeheims in Tübingen wird von einer Mitarbeiterin eines mobilen Impfteams gegen das Corona-Virus geimpft. (Archiv)

Die Bewohnerin eines Pflegeheims in Tübingen wird von einer Mitarbeiterin eines mobilen Impfteams gegen das Corona-Virus geimpft. (Archiv)

Foto: dpa/Sebastian Gollnow

In der Debatte um eine Auffrischung des Impfschutzes gegen das Corona-Virus hat Hausärzte-Chef Ulrich Weigeldt ein allgemeines Angebot an alle Menschen als unnötig abgelehnt. „Betagte und gefährdete Personen sollten die Auffrischungsimpfung ein halbes Jahr nach ihrer zweiten Impfung erhalten. Booster-Impfungen für alle sind aus medizinischer Sicht derzeit nicht nötig“, sagte der Chef des Hausärzteverbandes unserer Redaktion.

Zuvor hatte sich Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) offen für ein Angebot an alle Bürger gezeigt. Die Länder starteten jetzt schrittweise mit den sogenannten Booster-Impfungen in den Pflegeeinrichtungen und für besonders gefährdete Menschen, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Zudem könnten sich die noch einmal impfen lassen, die bislang nur Vektorimpfstoffe - dazu zählt etwa Astrazeneca - bekommen hätten. „In einem zweiten Schritt können wir dann darüber nachdenken, auch allen anderen eine Auffrischimpfung anzubieten“, sagte Spahn.

Doch auch der Präsident der Bundesärztekammer sowie Pflegeexperten lehnen das derzeit ab. Ärztepräsident Klaus Reinhardt sprach für die Booster-Impfungen nur bei Menschen mit Vorerkrankungen, Immungeschwächten und Hochbetagten aus. „Es spricht theoretisch Einiges dafür, dass eine Auffrischimpfung für Menschen mit bestimmten Vorerkrankungen, mit einem geschwächten Immunsystem sowie für Hochbetagte sinnvoll sein kann“, sagte Reinhardt. „Nach bisherigem Kenntnisstand und Auffassung namhafter Experten ist sie aber für die meisten Geimpften nicht sofort nötig“, sagte der Präsident der Bundesärztekammer. „Insgesamt fehlen uns immer noch aussagekräftige Studien, ob wann und für wen eine Booster-Impfung angezeigt ist“, sagte er. Die Ständige Impfkommission (Stiko) befasse sich derzeit intensiv mit dieser Thematik.  Die Stiko-Empfehlungen basierten ausschließlich auf der Basis der verfügbaren wissenschaftlichen Evidenz. Das gelte auch für die nun anstehende Nutzen-Risiko-Abwägung von Corona-Auffrischimpfungen für Erwachsene. „Bund und Länder wären gut beraten, bei dieser wichtigen Frage die wissenschaftliche Expertise der Stiko nicht zu übergehen“, mahnte Reinhardt.

Der Chef der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, mahnte den Einsatz mobiler Impfteams an, um auch Menschen in häuslicher Pflege zu erreichen. „Die Effektivität der Biontech/Pfizer-Impfung hat seit Anfang Juni in Israel stark nachgelassen. Das fordert zum Handeln auf, schließlich befindet sich Deutschland in der vierten Welle“, sagte Brysch. „Mittlerweile liegt auch hierzulande die Impfung der meisten Pflegebedürftigen und Hochbetagten ein halbes Jahr zurück. Daher ist dringend notwendig, die dritte Impfung zunächst für diese Bevölkerungsgruppe schnellstmöglich anzubieten, bevor Jens Spahn die Booster-Impfungen für jedermann ausruft“, so der Stiftungsvorstand. 900.000 Menschen würden in Pflegeheimen leben. „Gerade hier müssen mobile Impfteams für eine Auffrischimpfung zur Verfügung stehen. Anders sieht das bei den Pflegebedürftigen und Hochbetagten daheim aus. Für sie stehen die Hausärzte besonders in der Pflicht“, sagte Brysch. Doch inzwischen seien 23.000 Arztpraxen aus dem Impfangebot ausgestiegen. Zudem sei bei den verbliebenen Praxen oft telefonisch kaum ein Durchkommen möglich, kritisierte Brysch.

 Eine Booster-Impfung ist nach Angaben von Gesundheitsminister Spahn von den Zulassungen gedeckt. Sie verstärkt und verlängert den Impfschutz, erklärte er. Auch sei Impfstoff ausreichend vorhanden. Für die Auffrischimpfungen setzt Spahn nach eigenen Worten vor allem auf die Arztpraxen. Ende September gingen viele Impfzentren in den Standby-Modus, sagte er. „Aber die Arztpraxen sind ja noch da. Allein die schafften bis zu fünf Millionen Impfungen in der Woche.“

Die Kassenärzte forderten von Spahn jedoch konkrete Vorgaben. „Selbstverständlich können die Booster-Impfungen in den Praxen vorgenommen werden. Die niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen haben eindrucksvoll bewiesen, dass mit ihnen der Impffortschritt erst richtig Fahrt aufgenommen hat“, sagte der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen. „Doch die Praxen und ihre Teams brauchen Klarheit, wann und für wen  Impfungen vorgenommen werden können“, sagte Gassen. „Hierzu wäre es wichtig, eine möglichst klare wissenschaftlich begründete Definition zu haben, für wen eine Booster-Impfung sinnvoll wäre“, erklärte er. „Nicht vergessen dürfen wir, dass ab dem Herbst auch wieder die Grippesaison einsetzen wird. Sinnvoll wäre eine mögliche Kombination beider Impfungen“, riet der Vorstandsvorsitzende der KBV.

In Deutschland ist nach Einschätzung des Robert Koch-Instituts (RKI) die vierte Corona-Welle angerollt. Der Anteil der positiven Proben unter den Corona-PCR-Tests in Laboren stieg binnen einer Woche bis Mitte August von vier auf sechs Prozent, wie es im jüngsten RKI-Wochenbericht heißt. Die Sieben-Tage-Inzidenzen haben sich seit Anfang August fast verdreifacht und lagen am Freitag im bundesweiten Mittel bei fast 50 (48,8) bei 100.000 Einwohnern. An der Spitze des Länder-Vergleichs liegt Nordrhein-Westfalen mit 83,4.

(jd/mar/dpa)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort