Holocaust-Überlebende „Das Fremdsein ist vielen nicht willkommen“

Moers · Tamar Dreifuss erzählte vor Schülern der Geschwister-Scholl-Gesamtschule. Als Kind war sie zusammen mit ihrer Familie von den Nazis in Litauen verschleppt worden. Ihr Vater starb im Konzentrationslager.

 Tamar Dreifuss bei ihrem Vortrag in der Aula der Geschwister-Scholl-Gesamtschule.

Tamar Dreifuss bei ihrem Vortrag in der Aula der Geschwister-Scholl-Gesamtschule.

Foto: Norbert Prümen (nop)

Als Tamar Dreifuss und ihre Mutter Jetta Schapiro-Rosenkranz am 1. September 1943 in einen verdreckten Eisenbahnwaggon für Vieh getrieben wurden, war das Mädchen erst fünf Jahre alt. Dreifuss kann sich noch gut an den Tag erinnern. „Ich lag auf dem Boden und hatte Angst“, erzählte die Überlebende des Holocausts. „Der Waggon war stinkig und schmutzig. Für mich war es damals das schrecklichste Erlebnis meines Lebens.“

Seit 1998 erzählt sie immer wieder diese Geschichte, die sich am Rande des Ghettos im litauischen Vilnius abspielte. Sie erzählt sie als Teil der Familiengeschichte, wie sie zusammen mit Jetta und Jakob Schapiro über ein Zwischenlager in das Konzentrationslager Stutthoff bei Danzig gebracht werden sollte. Am Dienstag erzählt Dreifuss zum ersten Mal in der Aula der Geschwister-Scholl-Gesamtschule an Ecke von Römerstraße und Homberger Straße vor 250 Schülern. „Damals bin ich mit 60 Jahren in Pension gegangen“, blickt sie zurück. „Ich wollte danach noch etwas machen. Für mich ist es eine Therapie, über die schrecklichen Ereignisse zu berichten. Es ist für mich leichter, als sie herunterzuschlucken.“

So übersetzte sie Notizen ins Deutsche, die ihre Mutter in den 1940er Jahren auf Jiddisch festgehalten hatte. 2001 erschienen diese als Buch. Es trägt den Titel: „Sag niemals, das ist dein letzter Weg“. Denn Jetta Schapiro-Rosenkranz und Tamar Dreifuss verbindet der Mut. „Lieber will ich auf der Flucht erschossen werden, als auf den Tod in der Gaskammer warten“, zitiert die Tochter ihre Mutter.

Sie rahmt die Familiengeschichte mit Liedern ein, die von Mut und Frieden erzählen: „Ich danke dir“ von Daliah Lavi und „Hevenu Shalom Alechem – Wir wollen Frieden für alle.“ Wie durch ein Wunder konnten ihre Mutter und sie aus dem litauischen Zwischenlager in Tauroggen fliehen. Sie tauchten auf einem Bauernhof bei Vilnius unter, bis zur Befreiung durch die Rote Armee im Herbst 1944. Ihr Vater Jakob Schapiro war schon bei der Verladung in Vilnius von ihnen getrennt worden war. „Ich weiß bis heute nicht, wann und wie er im Lager Stutthoff umgekommen ist.“ Mucksmäuschenstill hören ihr die Schüler zu. „Ich habe lange geforscht und irgendwann die Häftlingsnummer heraus bekommen, mehr aber nicht.“

Die Unruhe, nichts Näheres über den Tod des Vaters zu wissen, treibt sie an. Und der Wille, „einige Tropfen auf den heißen Stein fallen zu lassen“, der immer heißer werde. „Das Fremdsein ist vielen nicht willkommen.“ Sie wirbt für Toleranz gegenüber anderen Kulturen, Sprachen, Religionen, Hautfarben oder Sitten. Vilnius bezeichnet sie, die heute in Pulheim bei Köln lebt, als ihr erste Heimat, Israel ihre zweite, wohin sie, ihre Mutter und deren neuer Ehemann 1948 zogen, bevor sie mit ihrem Ehemann Harry Dreifuss nach Deutschland wechselte.

„Es ist wichtiger als je zuvor Stärke, zu zeigen“, antwortet sie auf eine Frage, wie sie das Wahlergebnis vom Sonntag in Thüringen bewerte. „Gemeinsam können wir es schaffen.“

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