Mönchengladbach Salafisten: Jugendzentrum in Sorge

Mönchengladbach · Im Umfeld von Jugendzentren wie dem JaM in Pongs sind die Salafisten auf dem Vormarsch. Dort analysiert man daher, gemeinsam mit den Jugendlichen, neuerdings deren Videos und versucht, ihre Argumentationsketten zu durchbrechen. Leiter Sebastian Merkens vermisst die Unterstützung der Kirchen und fordert eine öffentliche Debatte.

Das fordern die Mönchengladbacher Salafisten von Ehefrauen
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Das fordern die Mönchengladbacher Salafisten von Ehefrauen

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Foto: Screenshot Youtube

Vor etwa einem halben Jahr trat die Änderung ein, fast von einem Tag auf den nächsten. Muslimische Jugendliche, die bis dahin die Nebenstelle DoJoh der katholischen Jugendfreizeiteinrichtung Jugendhaus am Martinshof (JaM) in Pongs besucht hatten, zogen sich zurück.

Plötzlich definierten sie ihren Glauben, indem sie in Internetplattformen Videos des Salafisten Pierre Vogel hochluden, zeitgleich kamen Tuscheleien über die "Protokolle der Weisen von Zion" und krude Theorien über die türkische Außenpolitik sowie den Terrorismus als legitime Form der Gegenwehr auf.

Seitdem — und weil Vogel und seine Anhänger offen um Jugendliche vom Rand der Gesellschaft buhlen — ist die Beschäftigung mit der Herausforderung, die das salafistische Gedankengut darstellt, im JaM Alltag geworden. Leiter Sebastian Merkens und sein Team besprechen und "zerlegen" gemeinsam mit den Jugendlichen die Veröffentlichungen der Salafisten.

Wie gehen Sie dabei vor?

Merkens Das JaM ist ein Ort der gesellschaftlichen Mitbestimmung. In diesem besonderen Fall haben wir im Internet eine Plattform eröffnet. Zuerst einmal werten wir mit Jugendlichen Videos von Pierre Vogel, Sven Lau und anderen aus. Wir untersuchen die vorgebrachten angeblichen Fakten und setzen uns mit rhetorischen Kniffen von Reden auseinander. Unsere Ergebnisse veröffentlichen wir auf dieser Plattform und stellen sie zur Diskussion.

Mit diesen Methoden wollen wir die rhetorischen und argumentativen Kompetenzen der Beteiligten soweit schulen, dass sie ein Rüstzeug gegen viele Verführungen von Demagogen und Hetzern haben. Letztlich arbeiten wir bei diesem Projekt ähnlich, wie wir uns mit Veröffentlichungen der NPD, linker Gruppen und anderer Extremisten auseinandersetzen. Derzeit sind 51 Menschen an der Aktion beteiligt.

Warum ist diese Form der Auseinandersetzung notwendig geworden?

Merkens Im DoJoh arbeiten wir hauptsächlich mit Kindern und Jugendlichen, die am Rand der Gesellschaft stehen. Wir erleben eine große finanzielle Armut, gepaart mit geringen Schulabschlüssen und mangelhaften Deutschkenntnissen. Es fehlt dort an verlässlichen Zukunftsperspektiven und Hoffnungen, was uns häufig einen Arbeitansatz verwehrt. Natürlich ist dieses Millieu besonders anfällig für angebliche "Erlöser", und Pierre Vogel und seine Gruppe erfreuen sich dort sehr großer Beliebtheit. Mit seiner einfachen Botschaft, die immer darauf hinausläuft, dass alle anderen Schuld haben, nur man selber nicht, bietet er ein Erklärungsmodell an, das es unnötig macht, sich auseinanderzusetzen. Nach diesem Modell sind wir auf einmal nicht mehr verlässlicher Partner, sondern die Schuldigen an der eigenen Lebensschieflage.

Wie macht sich dieser Stimmungswandel bemerkbar?

Merkens Eher weltlich orientierte Jugendliche sind auf einmal streng "gläubig" und voller Verachtung für alles andere. Wir sind die Ungläubigen, die unwissenden Christen oder die dekadenten "Westler". Auch sind unsere Ansichten und Argumente, die wir noch bringen könnten, in ihren Augen auf einmal das Produkt einer angeblichen medialen Hetze gegen den Islam oder eine Ausgeburt der amerikanischen Propaganda. Im Endeffekt hat diese Entwicklung dazu geführt, dass viele Jugendlichen aus diesem Millieu für uns nicht mehr sichtbar sind. Sie haben sich zurückgezogen, bleiben jetzt unter sich und stehen außerhalb dieser Gesellschaft. Sie sehen uns alle als Feinde und Gegner ihrer Religion und ihrer Mentalität.

Wie gehen Sie mit dem Rückzug um?

Merkens Den Rückzug derer, die schon gegangen sind, müssen wir erstmal akzeptieren, da wir ihnen unsere Lebensvorstellungen nicht aufzwingen können und wollen.

Fehlt eine öffentliche Debatte?

Merkens Es ist erschreckend zu sehen, dass wir Menschen wie Vogel und Lau die absolute Deutungshoheit über die Bibel, den Koran und unsere Gesellschaft überlassen haben. In seinen Reden deutet Vogel die Bibel nach eigenem Bedarf, und keiner unserer christlichen Schriftgelehrten widerspricht. Ähnlich verhält es sich mit dem Koran. Die Salafisten leiten eine angebliche Wahrheit aus diesem Buch ab, und keiner der islamischen Schriftgelehrten widerspricht. Am dramatischsten finde ich dies aber bei der Deutung unserer Gesellschaft. So ist eine Kritik an und Auseinandersetzung mit Ausprägungen dieser Glaubensform direkt eine Einschränkung der Religionsfreiheit, der Bericht der Medien über die Aktivitäten dieser Gruppe wird als Islamhetze gescholten, und kritische Äußerungen anderer werden ausländerfeindlich genannt.

Sie vermissen also Stellungnahmen der christlichen, islamischen und politischen Vertreter in dieser Stadt?

Merkens Besonders vermisse ich von unseren kommunalen Vertretern Anfragen in Richtung dieser Gruppe. Da wird mit kleinen Tricksereien verhindert, dass sie hier ihr Gebetshaus errichten kann, aber eine öffentliche Auseinandersetzung findet nicht statt. Mir fällt es schwer zu verstehen, warum unsere Politiker gerade bei dem Thema Freiheit keine Position beziehen. Uns wird in den Veröffentlichungen dieser Gruppe ganz oft vorgeworfen, dass wir aus unserer Geschichte nichts gelernt hätten. Noch vor 65 Jahren hätten wir die Juden verfolgt — und heute die Moslems, so die Aussage in vielen Reden von Herrn Vogel. Ist es mit diesem Vorwurf nicht gerade an der Zeit, Stellung zu beziehen? Wir haben sehr wohl aus unserer Geschichte gelernt. Unsere Gesellschaft garantiert jedem einzelnen die Möglichkeit zur Entfaltung. Und wir sind gerade mit dieser Vergangenheit misstrauisch bei Menschen, die uns den einzig "wahren" Weg verkünden wollen.

Wie entziehen sich die Salafisten einer möglichen Diskussion?

Merkens An dieser Stelle sollte ich betonen, dass wir hier keinen theologischen, sondern einen gesellschaftlichen Dialog führen wollen. Die in unserem Grundgesetz festgeschriebene Glaubensfreiheit hat Grenzen. Jeder Glaube und jede Kirche muss sich einer öffentlichen Betrachtung stellen. Sollten bei dieser Betrachtung Widersprüche zwischen gesellschaftlichen Normen und Glaubensregeln auftreten, so müssen diese offen diskutiert werden können. Mit dieser Gruppe ist das wie gesagt leider nicht möglich. Herr Vogel legt in seinen Reden und Äußerungen immer sehr viel Wert darauf, daß seine Gruppe den eigentlich wahren Weg kennt und von uns allen deswegen verfolgt wird. Er betont auch, dass gerade durch diese Verfolgung der eigene Wahrheitsanspruch bewiesen sei. Mit dieser Argumentation fügt er zwar seine eigene Gruppe enger zusammen, entzieht sich aber auch jeglichem Dialog. In diesem Fall muss dann schon die Frage gestellt werden dürfen, ob diese Ausprägung des Glaubens in unserer Gesellschaft überhaupt Platz hat.

Haben Sie versucht, in einen direkten Kontakt mit Herrn Vogel zu kommen?

Merkens Das versuchen wir schon die ganze Zeit, werden aber immer wieder ferngehalten oder ignoriert. Wir bieten Herrn Vogel nach wie vor einen öffentlichen Briefdialog an. Wenn er als Gast oder Bürger unserer Stadt meint, einen gesellschaftlichen oder religiösen Beitrag zum Wohle unserer Gemeinschaft leisten zu können, so soll und kann er das Gespräch fernab von Propaganda und Demagogie mit uns suchen.

Man werde sich als Vertreter einer Jugendeinrichtung allerdings sicher nicht beim Freitagsgebet der Salafisten auf die Bühne stellen, um dann hinterher in einem "raffiniert zusammengeschnittenen Video wie ein Volltrottel oder Rechtsradikaler" zu wirken — denn das sei schon anderen passiert, gibt Merkens zu bedenken. Unbestritten ist, dass die Salafisten die neuen Medien geschickt nutzen und instrumentalisieren. Dass eine öffentliche, konstruktive Auseinandersetzung mit der religiösen Gruppe in Gang kommt, sei um so wichtiger, weil ihr Einfluss sichtlich zunimmt, hat man im JaM beobachtet. "Da sind plötzlich Jugendliche bei, die ich von früher aus anderen Einrichtungen kenne, und zwar aus völlig anderen Kontexten", sagt Merkens.

"Wofür steht diese Stadt, wofür stehen ihre Bürger?", fragt er in Richtung der gesellschaftlichen Mitte. Im Prinzip sei es ein Armutszeugnis für eine Stadt, wenn Salafisten auf der einen und eine Bürgerinitiative auf der anderen Seite die Deutung der Gesellschaft unter sich ausmachen. Dass dies kein Kampf ist, den eine Jugendeinrichtung zu führen hat, ist ihm und seinen Kollegen klar. Sie könnten lediglich aufklären, sich gegen jegliche Form von Extremismus positionieren: "Wenn wir alles akzeptieren, braucht es uns nicht. Dann sind wir austauschbar."

Die Jugendlichen im JaM haben bisher vieles herausgearbeitet — etwa, dass niemand Angst vor Kopftüchern hat, sondern eher davor, dass mit einer Burka Gestik und Mimik, wichtige Orientierungshilfen im westlichen Kulturkreis, verloren gehen. Und vor der Tatsache, dass eine Gruppe, die sich außerhalb der Gesellschaft stellt, dieser ihre Regeln aufzwingen und so das individuelle Streben nach Glück einengen will. Die Jugendlichen stellen dabei fest, dass es oft schwer ist, die Argumentationsketten der Salafisten aufzubrechen. "Wir müssen den Stein suchen, der die Mauer einstürzen lässt", sagt Merkens. Noch lässt man sie allein damit.

(RP)
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