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Lieselotte Burtschell aus Krefeld erinnert sich Die letzte Zeugin

Krefeld · Lieselotte Burtschell aus Krefeld hat miterlebt, wie fast ihre gesamte Familie von den Nazis deportiert wurde. Die Überlebenden schwiegen meist über diese Zeit. Die heute 87-Jährige aber berichtet von ihrem Schicksal. Eine Rekonstruktion zum diesjährigen Holocaust-Gedenktag.

 Lieselotte Burtschell berichtet von ihren Erinnerungen an eine schwierige Zeit. Fast ihre ganze Familie wurde von den Nazis deportiert.

Lieselotte Burtschell berichtet von ihren Erinnerungen an eine schwierige Zeit. Fast ihre ganze Familie wurde von den Nazis deportiert.

Foto: Lammertz, Thomas (lamm)

Es klingelt an einem Sonntagmorgen. Und für Lilo verändert sich alles. Es ist der 17. September 1944, Deutschland hat den Krieg de facto verloren, aber das Grauen geht weiter. Während im Westen die Alliierten vorrücken, erreichen immer noch täglich Transporte die Arbeits- und Vernichtungslager im Osten. Der Sieg gegen Hitlers Reich kommt jetzt schnell, nur alles andere nicht. Monate wird es noch dauern, bis alle KZs befreit sind. Jahre, bis die Überlebenden reden. Manchmal Jahrzehnte. Und ganz oft reden sie nie. So wie Lilos Mutter.

 Lieselotte wird von allen nur Lilo genannt. Das Bild entstand um 1941.

Lieselotte wird von allen nur Lilo genannt. Das Bild entstand um 1941.

Foto: burtschell

An der Gladbacher Straße 235 in Krefeld wartet an jenem Sonntag die Gestapo, es ist nicht das erste Mal, dass sie hier ist. Schon oft sahen die Polizisten nach Martha Hildach und ihrer 13-jährigen Tochter. Diesmal ist es kein Kontrollbesuch. Der Polizist hat sein Gewehr geschultert, den Befehl in der Hand. Die Familie hat nur wenige Minuten, um ein paar Sachen zu packen. Dann werden sie zum Bahnhof geführt. Bis zum Abend warten sie dort mit den verbliebenen Krefelder Juden. Später wird sich Lilo nur noch an all die vielen Tränen erinnern, an Verzweiflung und Angst. An den Moment, als die Polizisten die Entscheidung treffen: Lilo darf gehen. Ihre Mutter nicht. Sie wird in einen Lkw verladen. Stopp in Düsseldorf, dort in den Zug. Dann vier Monate Internierung in Weimar. Und schließlich Ankunft in Theresienstadt. Dem Vorzeige-Ghetto der Nazis.

Ein Freitag im Januar 2019. Lieselotte Burtschell kramt in ihrer Wohnung in Krefeld-Bockum einen Stapel alter Fotos aus einer Klarsichthülle. Freunde, Familie, die Kinder und Enkel, für alle ist die 87-Jährige einfach nur Lilo. Wie damals. Sie legt die Bilder auf den Tisch. „Das bin ich“, sagt Lilo und zeigt auf ein Mädchen, das auf einer Wiese steht. Weißes Kleid, schwarze Lackschuhe, die Haare reichen bis kurz über das Kinn, es lächelt. Das Foto entstand zwischen 1941 und 1942, Lilo war zehn, die Familie noch in Krefeld. „Nur meine Mutter war Jüdin, deshalb ist mir nicht so viel passiert.“ Doch um sie herum musste Lilo zusehen, wie die Nazis ihr alles nahmen. Die Familie. Die Kindheit. Den Onkel und die Tante, dann die Großeltern, am Ende die Mutter. Der Kontakt zum Vater - ein Zahnarzt, der mit jüdischer Frau kein Examen machen durfte - brach zeitweise ab.

Über das, was sie im Dritten Reich erlebt hat, redet Lilo nicht oft und nicht gerne. Und wenn doch, geht sie sparsam um mit Details. Einmal hat sie die Schulklasse ihrer Enkelin besucht. In den 90ern hat sie ihre Geschichte dem Historiker Burkhard Ostrowski erzählt, der wenig über sie, aber viel über ihre jüdische Familie aufschrieb. „Es war alles scheußlich genug. An einige Dinge möchte ich nicht erinnert werden“, sagt Lilo. Sie schiebt wieder ein Foto in die Mitte des Tischs. Es zeigt einen stark ergrauten Mann, den Antiquitätenhändler Albert Italiander. Lilos Großvater. Als Hitler 1933 an die Macht kommt und kurz darauf die Hakenkreuzflagge vom Krefelder Rathaus weht, arbeitet der 73-Jährige trotz seines hohen Alters noch in seinem Geschäft am Ostwall.

 Mutter Martha Hildach überlebte Theresienstadt.

Mutter Martha Hildach überlebte Theresienstadt.

Foto: burtschell

Albert Italiander spürt als erster die Auswirkungen der NS-Diktatur. Weil das Regime zum Boykott jüdischer Geschäfte aufruft, verliert er seinen Laden. Ein Jahr später trennt sich Lilos Vater von Martha, sie zieht mit dem Mädchen zurück zu den Eltern Albert und Emma Italiander - und damit auch zu ihrem Bruder Siegfried und der Schwester Johanna.

Während der Pogrome 1938 versteckt sich die Familie bei Freunden. Die Nacht verschärft alles massiv, von nun an werden Juden systematisch verfolgt. Albert und Emma müssen den Judenstern tragen, Lilo die Schule wechseln. In Krefeld ist die Familie zunehmend isoliert, viele Freunde wenden sich ab, nur ein paar bleiben treu. Die Nazis räumen die Wohnung und trennen Martha und Lilo von den anderen. Beide ziehen in die Elisabethstraße.

 Großmutter Emma Italiander

Großmutter Emma Italiander

Foto: italiander

Johanna und Siegfried werden zuerst deportiert. Im Dezember 1941 holt die Gestapo sie. Der Transport bringt sie nach Riga. Siegfried wird direkt im Ghetto erschossen, Johanna stirbt im KZ Stutthof. Lilo sagt heute, man habe versucht, die Wahrheit über die Deportationen vor den Kindern geheim zu halten. „Natürlich fiel uns auf, dass plötzlich Leute verschwanden“, erzählt sie. „Es hieß dann, die sind verreist.“ Im April 1942 vermisst Lilo plötzlich einen gleichaltrigen Jungen, mit dem sie öfter gespielt hat. „Er hieß Helmuth. Helmuth Schnall. Diesen Namen werde ich niemals vergessen.“ Erst viel später findet sie heraus, dass er ins polnische Izbica deportiert und von dort aus wohl in einem der Vernichtungslager im Osten vergast wurde.

 117-XVI/5 ist die Kennnummer von Martha Hildach in Theresienstadt. Sie überlebte das Ghetto und kehrte zurück nach Krefeld.

117-XVI/5 ist die Kennnummer von Martha Hildach in Theresienstadt. Sie überlebte das Ghetto und kehrte zurück nach Krefeld.

Foto: italiander

Lilos Großeltern haben 1942 niemanden mehr, der sie verstecken kann. Am 26. Juli um 11.26 Uhr erreicht ein Altentransport das Ghetto Theresienstadt. Unter den mehr als 900 Juden: Albert und Emma Italiander. „Auf der Fahrt haben sie meinem Großvater als erstes den Stock weggenommen“, sagt Lilo. Im Oktober 1943 stirbt er mit 83 Jahren.

 Albert Italiander (links im Bild)

Albert Italiander (links im Bild)

Foto: italiander

Etwa zur gleichen Zeit fliegen die Alliierten Luftangriffe auf Krefeld. Eine Bombe trifft die Wohnung von Martha, nebenan sterben mehrere Menschen, Lilo findet einen Nachbarjungen tot auf der Straße. Mutter und Tochter kommen jetzt bei Bekannten unter. Bis 1944 sind sie sicher, weil Kinder aus Mischehen und das jüdische Elternteil nicht deportiert werden. Doch kurz vor Kriegsende wird der Schutz der Partner aufgehoben. Die NS-Führung erwägt, auch die Kinder aus Mischehen in die Lager zu schicken, entscheidet sich aber dagegen, weil sie Unruhen in der Bevölkerung fürchtet.

Am 30. Januar 1945 erreicht Martha Theresienstadt, nachdem sie monatelang in Weimar interniert war. Lilo wird von einer Nachbarin aufgenommen. „Wir hatten Glück, dass es damals auch viele nette und hilfsbereite Menschen in Krefeld gab“, sagt Lilo „Und diesen Optimismus, dass alles besser wird, den hab ich mir bis heute behalten.“

Lilo blickt über den Wohnzimmertisch und macht eine Pause. Dann sammelt sie die Bilder wieder ein. Als letztes zeigt sie ein Stück vergilbtes Papier. Es ist die Kennnummer ihrer Mutter aus Theresienstadt. 117-XVI/5. In der Nacht vom 8. auf den 9. Mai befreit die Rote Armee das Ghetto. Zu den Überlebenden gehören auch Martha und ihre Mutter. Sie haben sich im Lager wieder getroffen. Sofort schicken sie eine Karte nach Krefeld, versprechen Lilo, dass sie bald zu Hause sind und ihren Geburtstag nachfeiern.

Von da an leben die drei ständig zusammen. Emma stirbt 1946, Martha 1968. Beide haben nie darüber gesprochen, was in Theresienstadt passiert ist. Lilo legt die Fotos beiseite und schaut auf die Uhr. Noch eine Frage: Wie schafft man es, nach all dem wieder zurück in den Alltag zu finden? Lilo schweigt, sie wird unruhig und spielt mit der Klarsichtfolie. „Wissen Sie, wir haben immer viel zusammen gelacht“, sagt sie dann. „Trotz allem.“

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