Serie: Was macht eigentlich Nicole Johr? „Ich werde bestraft und weiß nicht wofür“

Krefeld · Die tragische Geschichte von Nicole Johr, die mit 37 plötzlich erblindete, hat viele Menschen bewegt. Wir haben nachgefragt, wie es der Hülserin heute geht.

 Nicole Johr ist vor zweieinhalb Jahren erblindet. Hund Sammy leistet ihr zuhause Gesellschaft.

Nicole Johr ist vor zweieinhalb Jahren erblindet. Hund Sammy leistet ihr zuhause Gesellschaft.

Foto: Fabian Kamp

Sammy ist im Verteidigungs-Modus: Bellend und knurrend steht der Mischlings-Rüde vor seiner Besitzerin Nicole Johr und beruhigt sich auf gutes Zureden nur langsam. Der 39-Jährigen gibt Sammy das Gefühl von Sicherheit. Denn Nicole Johr ist vor rund zweieinhalb Jahren plötzlich erblindet und versucht seither, sich ihren Alltag neu zu erkämpfen (wir berichteten mehrfach). Wie geht es der Hülserin heute?

Sammy gehört zu den positiven Entwicklungen im Leben der jungen Frau. „Er ist eine große Bereicherung. Ich fühle mich viel sicherer, wenn ich mit ihm unterwegs bin“, sagt Nicole Johr. „Wenn er knurrt oder irgendwo nicht langgehen will, dann weiß ich, dass ich noch mal tasten muss, weil wahrscheinlich etwas im Weg steht.“

 Mit ihrem Hund Sammy, der kein ausgebildeter Blindenhund ist, geht Nicole Johr gern in ihrer Nachbarschaft in Hüls spazieren.

Mit ihrem Hund Sammy, der kein ausgebildeter Blindenhund ist, geht Nicole Johr gern in ihrer Nachbarschaft in Hüls spazieren.

Foto: Fabian Kamp

Jedoch ist Sammy kein ausgebildeter Blindenhund. „Ich habe lange um einen Blindenhund gekämpft, aber mich am Ende doch dagegen entschieden“, sagt die junge Frau. Vor allem, weil der Hund auch ein Familienmitglied sein sollte, ein Spielgefährte für ihren kleinen Sohn. „Das wäre bei einem ausgebildeten Blindenhund nicht möglich, der wäre ein Arbeitstier gewesen“, erklärt sie.

Die Spaziergänge mit ihrem Sammy in der Nachbarschaft sind trotz des verbesserten Sicherheitsgefühls eine Herausforderung: „Ich habe mich schon schrecklich verlaufen und musste lange um Hilfe rufen.“

Nicole Johr orientiert sich per Gehör, zum Beispiel am Rauschen eines Gullis vor der Tür. „Fahrräder sind eine große Gefahr, weil man sie nicht hören kann. Und ich habe auch sehr große Angst vor Elektroautos“, sagt sie. Der Gang mit dem Hund bedeutet ein bisschen Freiheit. Aber an schlechten Tagen nennt die 39-Jährige ihren Spaziergang die „Knastrunde“: „Ich sitze eine Strafe ab und weiß nicht, wofür.“

Frust klingt mit, als sie von ihrem Alltag in totaler Finsternis berichtet. Vieles, was die einst so kämpferische junge Frau sich vorgenommen hatte, hat nicht geklappt. „Oder ich habe meine Kraft überschätzt“, sagt sie.

Beispiel Rückkehr ins Berufsleben: Ihr Arbeitgeber, ein Callcenter, hatte ihr nach der Erblindung die Rückkehr an den alten Arbeitsplatz angeboten. Nach langem Kampf mit der Rentenkasse klappte schließlich die Organisation des Fahrdienstes. Doch inzwischen ist Nicole Johr krankgeschrieben. „Das Unternehmen hat mir viele Möglichkeiten und Chancen gegeben, ich habe verschiedene Tätigkeiten ausprobiert, aber ich habe es nicht gepackt. Ich muss mir eingestehen, dass für mich als blinder Mensch die Belastung zu hoch war.“ Eine Erkrankung war die Folge. „Es gibt extreme Tiefpunkte“, sagt Johr. „Ich bin oft frustriert und traurig. Das Arbeiten fehlt mir und die Einsicht, dass ich nicht Kraft habe, macht es nicht besser.“

Der Kampf der ersten Monate nach der Erblindung habe sie beflügelt, der Ehrgeiz, ihr Leben als blinde Frau meistern zu wollen, Kraft und Energie gegeben, sie abgelenkt. „Das ist alles wie ein Kartenhaus zusammengebrochen. Heute fehlt mir oft der Lebensmut, und ich weiß nichts mit mir anzufangen.“ Das Gefühl, eine Last zu sein oder begafft zu werden, tue weh. „Ich habe immer gedacht, ich bin stärker.“

Doch es gibt auch schöne Momente. Gemeinsam mit ihrem Mann hat Nicole Johr einen festen Camping-Stellplatz in Holland an der Maas gepachtet. „Dort kann ich mich inzwischen relativ frei bewegen, kann allein zum Waschraum, und die Leute haben sich an mich gewöhnt. Und für unseren Sohn sind die Tage dort sehr schön.“ Das Backen klappe inzwischen ganz gut. „Zu kochen habe ich auch versucht, aber das war ein Schuss in den Ofen“, sagt Nicole Johr.

Mit ihrem Mann macht sie Pläne, irgendwann später mal dem Krefelder Winter zu entrinnen, irgendwo im Süden. Ein paar Städtereisen sind geplant, vielleicht Paris: „Ich denke oft: ‚Warum hast du das nicht alles schon gemacht’“, erzählt sie. Der Neid auf die, die alles machen können, sagt sie, sei das Schlimmste. „Dabei ertappe ich mich oft. Ich vermisse mein altes Leben und lebe extrem in Erinnerungen, auch wenn die Bilder mich traurig machen. Aber ich versuche auch, jeden Glücksmoment mitzunehmen und zu genießen.“

Ein Wunsch von Nicole Johr wäre es, sich vielleicht ehrenamtlich zu engagieren. „Ich habe so viel Hilfe erfahren, dann könnte ich auch was zurückgeben“, meint sie. Doch der Alltag als Erblindete koste viel Kraft. „Manchmal verliert man einfach die Lust, was Neues auszuprobieren.“

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