Annexionspläne nach 1945 Als sich die Niederlande Teile von NRW einverleiben wollten

Elten · Neuss und Mönchengladbach, Kleve, Krefeld und Köln – nach dem Zweiten Weltkrieg planten die Niederlande, rund 10.000 Quadratkilometer deutsches Gebiet zu annektieren. Die Alliierten waren dagegen, mussten aber Zugeständnisse machen.

 Am 23. April 1949 wurden die Dörfer Elten und Selfkant den Niederlanden zugeschlagen — und die deutschen Grenzsteine übermalt.

Am 23. April 1949 wurden die Dörfer Elten und Selfkant den Niederlanden zugeschlagen — und die deutschen Grenzsteine übermalt.

Foto: Joop van Bilsen / Aenfo - Nationaal Archief, CC-BY-SA 4.0

Neuss und Mönchengladbach, Kleve, Krefeld und Köln — nach dem Zweiten Weltkrieg planten die Niederlande, rund 10.000 Quadratkilometer deutsches Gebiet zu annektieren. Die Alliierten waren dagegen, mussten aber Zugeständnisse machen.

Eine ruhige Straße am Niederrhein an einem wolkenlosen Montagmorgen. Eine Frau hängt eine frisch gewaschene Decke über die Fensterbank ihres Schlafzimmers im Obergeschoss. Eine ganz normale Szene, aber das Reihenhaus, in dem sie stattfindet, ist etwas Besonderes. Es ist ein typisch niederländisches ‘rijtjeshuis': mit einem großen Fenster neben der Haustür, mit orangefarbenen Dachziegeln statt schwarzen. Es gibt hier noch mehrere Dutzend Häuser wie dieses. Sie sind stumme Zeugen eines von vielen vergessenen Kapitels Geschichte: Elten, heute ein Stadtteil von Emmerich am Rhein, war von 1949 bis 1963 Teil der Niederlande. Genau wie Selfkant, eine Gemeinde westlich von Heinsberg.

 Variante A des "Bakker-Schut-Plans" sah vor, dass Köln, Mönchengladbach und Neuss niederländisch werden würden, dazu Grevenbroich und Bergheim. Variante B umfasste Krefeld und Aachen, Münster und Osnabrück. Die kleinste Variante C sparte die Großstädte aus, umfasste aber etwa Kleve und viele ländliche Gebiete.

Variante A des "Bakker-Schut-Plans" sah vor, dass Köln, Mönchengladbach und Neuss niederländisch werden würden, dazu Grevenbroich und Bergheim. Variante B umfasste Krefeld und Aachen, Münster und Osnabrück. Die kleinste Variante C sparte die Großstädte aus, umfasste aber etwa Kleve und viele ländliche Gebiete.

Foto: Ferl

Diese beiden Orte dienten, zusammen mit 17 Grenzstraßen, mit kleinen und größeren Grundstücken und einem Hügel bei Nimwegen, als Ausgleich für den Schaden, den die Niederlande im Zweiten Weltkrieg erlitten hatten. 69 Quadratkilometer deutsches Territorium mit fast 10.000 Einwohnern kamen in niederländische Hand.

Für die Niederländer war das nur eine Art Trostpreis. Sie hatten so viel mehr gewollt, als der Krieg für sie nach fünf langen Jahren zu Ende war. "Damals gab es in unserem Land eine riesige Wut”, sagt Peter Romijn von NIOD, dem niederländischen Institut für Kriegsdokumentation. "Die Deutschen hatten so viel Schaden angerichtet. Der Hafen in Rotterdam wurde zerstört, Polder wurden unter Wasser gesetzt. Deutschland muss dafür zahlen, war der Gedanke. Aber Deutschland hatte kein Geld. Deshalb entstand die Idee, einen Teil des Grenzgebiets zu annektieren.”

In einem Manifest von 1945, das viele einflussreiche Niederländer unterzeichnet hatten, argumentierten die Autoren, warum eine Annexion eine gute Idee wäre. "Wenn dies nicht geschieht, wird eine endlose Reihe von Generationen unter der Last leiden, die uns die deutschen Gräueltaten auferlegt haben.” Und: "Durch die Deutschen hat sich das Problem der dichten Bevölkerung der Niederlande noch verschärft, weil sie viele Ressourcen zerstört haben."

Es waren nicht nur der Wunsch nach Rache und der Bedarf an mehr Raum und Bodenschätzen, die die Niederländer antrieben. Der östliche Nachbar sollte nie wieder so groß und mächtig werden. "Der 10. Mai 1940 hat uns gelehrt, dass Deutschland keinen Vorwand braucht, um unser Land anzugreifen”, schrieben die Autoren des Manifests. An diesem Tag hatte die Wehrmacht Belgien und die Niederlande überfallen.

Die Idee der um 50 Prozent gewachsenen Niederlande inspirierte einige Mitglieder des vom Staat eingesetzten Ausschusses für Gebietserweiterung enorm. Frits Bakker Schut, Sekretär des Ausschusses, arbeitete einen sehr detaillierten Plan aus. Drei verschiedene Varianten sah er vor, die weitreichendste umfasste eine Annexion von 41 Städten und Landkreisen, mehr als 10.000 Quadratkilometer groß. Die zehn Millionen Einwohner sollten vor der Übergabe an die Niederlande in andere Teile Deutschlands umgesiedelt werden. "Deutscher Grund ohne Deutsche”, lautete ein Slogan, "Oostland - Ons Land" ein anderer, frei übersetzt: "Das Land im Osten ist unser Land".

Aachen (auf Niederländisch: Aken) und Köln (Keulen) sollten Teil der neuen Niederlande sein, dazu Mönchengladbach (Monniken-Glabbeek), Moers (Meurs), Münster (Munster) und viele andere Städte über Nordhorn (Noordhoorn) bis zur Insel Borkum.

Plan B sparte Großstädte wie Köln, Gladbach und Neuss aus. Doch selbst beim bescheidensten Plan C wären neben Emden und Aurich, Borken und Coesfeld auch Kleve, Rees und Geldern niederländisch geworden. Hielten die Niederländer das für einen realistischen Plan? Teilweise schon, sagt Peter Romijn. "Sogar Königin Wilhelmina stand dahinter. Sie hatte sich während des Krieges zu einer radikalen Deutschlandhasserin entwickelt. Andere erkannten jedoch, dass eine große Annexion mehr Probleme als Vorteile bringen würde.”

Weil auch die Alliierten, denen eine starke Bundesrepublik wegen der wachsenden Spannungen mit der Sowjetunion wichtig war, nicht einverstanden waren mit den niederländischen Annexionsträumen, wurden die Pläne immer bescheidener. Bis am 23. April 1949 nicht mehr übrig blieb als Selfkant und Elten, plus ein paar Grundstücke hier und da — überschaubare 69 Quadratkilometer insgesamt. "Natürlich war die niederländische Regierung damit nicht glücklich”, stellt Tim Terhorst klar. "Aber das wollte man natürlich nicht zeigen. Sie hat versucht, das Beste daraus zu machen.” Terhorst, der aus Rees stammt, schloss sein Studium der Politikwissenschaften in Münster 2006 mit einer Magisterarbeit über die Annexion von Elten ab.

 23. April 1949: Landdrost Hubert Dassen hängt um 12 Uhr mittags die niederländische Fahne an sein Amtsgebäude in Selfkant.

23. April 1949: Landdrost Hubert Dassen hängt um 12 Uhr mittags die niederländische Fahne an sein Amtsgebäude in Selfkant.

Foto: Gemeinde Selfkant

Der 23. April 1949 war ein schöner, sonniger Samstag, 17 Grad. Aber die Eltener hatten Angst, sagt Terhorst. "Sie wussten nicht, was passieren würde. Wie würden sich die Holländer verhalten? Würde man seinen Job in Deutschland behalten? Es gab viele, viele Fragen.”

Doch es gab keinen echten Einmarsch, keine Militärparade, als die Niederländer Elten ‘übernahmen'. Zwar riegelte die Militärpolizei Elten zwei Wochen lang völlig ab, doch es blieb friedlich. Terhorst: "Die Niederländer waren sehr vorsichtig. Dieses Verhalten hat sich in den folgenden Jahren tatsächlich fortgesetzt. Das Zusammenleben verlief sehr pragmatisch, die Niederländer zeigten sich flexibel für die deutschen Empfindsamkeiten.”

 Vor der „Nacht der Nächte“ im noch niederländischen Selfkant am 31. Juli 1963: Ungezählte Lkw mit Lebens- und Genussmitteln warten darauf, dass die Grenze über sie hinweggeht.

Vor der „Nacht der Nächte“ im noch niederländischen Selfkant am 31. Juli 1963: Ungezählte Lkw mit Lebens- und Genussmitteln warten darauf, dass die Grenze über sie hinweggeht.

Foto: Gemeinde Selfkant

Natürlich war es von weitreichender Bedeutung, was passierte. Von einem Tag auf den anderen gehörten die Eltener zum Königreich der Niederlande. Ein bisschen verloren müssen sie durch ihr Dorf gelaufen sein. Plötzlich hieß die Bergstraße ‘de Bergstraat', musste man Briefe in ein anderes Postfach legen, wehte eine rot-weiß-blaue Flagge über ihren Köpfen. Zu dieser Zeit wussten sie noch nicht, dass ein großer Wohlstand das unbehagliche Gefühl bald weitgehend ausgleichen würde.

Der Eltenberg ist nicht hoch, nur 84 Meter. Aber die Niederländer, an Deiche gewöhnt, waren sehr glücklich mit ihrer "Trophäe". Terhorst: "Es gibt Schätzungen, dass 400.000 Touristen pro Jahr den Berg bestiegen.” Von der Annexion zur Touristenattraktion: Das Schicksal meinte es gut mit Elten. Denn das Dorf profitierte nicht nur von den holländischen "Bergsteigern": Für viele deutsche Touristen, die mit dem Bus vom Meer oder vom Keukenhof zurückkehrten, war es auch die letzte Möglichkeit, ihre restlichen Gulden auszugeben. Dazu kamen Deutsche, die die Grenze auf der Suche nach billigerem Kaffee und Zigaretten überquerten. Die Kasse klingelte und klingelte und klingelte — auch, weil der Schmuggel blühte.

Nicht für jeden verlief das Leben jedoch problemlos, fand Tim Terhorst heraus. Die Handwerker hatten es beispielsweise schwer, Kunden in ihrem neuen Land zu finden. Und für die Bauern war die Annexion eine kleine Katastrophe. "Der niederländische Agrarsektor war damals schon sehr international ausgerichtet”, so Terhorst. "Die deutschen Landwirte waren das überhaupt nicht gewohnt.”

Es ist daher kein Zufall, dass gerade die Bauern in Elten das Deutschtum in diesen Jahren lebendig gehalten haben. Sie bekamen dabei Unterstützung von der Kirche — Elten fiel weiterhin unter die Diözese Münster —, und auch die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen fühlte sich nach wie vor zuständig. Die Schulpolitik — mit nur zwei Wochenstunden Niederländisch — blieb in deutschen Händen, Lehrer wurden von NRW bezahlt. Karl Arnold, der damalige Ministerpräsident, sagte immer wieder: "Elten gehört zu NRW.” Wenn der Eltener Schützenverein ein neues Banner brauchte, zahlte NRW. Elten wurde nie wirklich niederländisch. Die Einwohner behielten ihre deutschen Pässe, wenn auch mit dem gestempelten Eintrag "Wordt als Nederlander behandeld". Die Kicker von Fortuna Elten spielten in den niederländischen KNVB-Ligen, wurden aber dennoch als Deutsche betrachtet. Die jungen Männer mussten auch nicht zur Bundeswehr. Und Häuslebauer erhielten Unterstützung von beiden Staaten.

Dieser Schwebezustand zwischen den Staaten konnte nicht ewig anhalten: Nach langen Verhandlungen unterzeichneten die Niederlande und die Bundesrepublik Deutschland am 8. April 1960 ein Abkommen in Den Haag. Elten, Selfkant und ein paar andere Landstücke sollten wieder deutsch werden. Im Gegenzug zahlte Deutschland den Niederlanden 280 Millionen Mark als Wiedergutmachung.

Am 1. August 1963 wurden die Grenzposten wieder auf ihren alten Platz gesetzt. De Bergstraat wurde wieder die Bergstraße, rot-weiß-blau wieder schwarz-rot-gold. Tat das den Holländern weh? Nicht wirklich, sagt Peter Romijn von NIOD. "Wir wussten nicht mehr genau, was wir mit Elten machen sollten, es war okay.”

Und die Dorfbewohner sahnten noch einmal richtig ab. In der berühmten "Butternacht” standen die Eltener Straßen voller Lastwagen mit in den Niederlanden günstigen, aber zollpflichtigen Waren wie Butter und Kaffee. Terhorst: "Manche Einwohner entleerten ihre Räume, um sie mit Kaffee zu füllen. Händler bezahlten sie dafür gut.” Am nächsten Morgen waren der Kaffee und die Butter keine niederländischen, sondern deutsche Waren — zollfrei.

Und so war, weniger als 20 Jahre nach Kriegsende, von den einstigen größenwahnsinnigen Annexionsplänen nur eines übrig: Der 75 Meter hohe Hügel Wylerberg bei Kranenburg blieb niederländisch. Die Größenverhältnisse änderte das nur unwesentlich. Die Niederlande blieben, was sie immer waren: klein, mit einem Riesen als östlichem Nachbarn.

In Elten sind die Spuren der niederländischen Zeit hier und da noch sichtbar. Die Reihenhäuser, das Restaurant "Het Oude Posthuis". Daran, wie es damals war, erinnert sich ein deutscher Mann, der einen Spaziergang macht, aber nicht: "Ich bin einfach zu jung." Bevor er weitergeht, wünscht er einen schönen Tag. Mit den Worten: "Fijne dag!”

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