Gefährlicher Häftling aus JVA Werl Protokoll einer Flucht

Düsseldorf · Daniel V. gilt als extrem gefährlich. Er ist seit Mittwoch auf der Flucht. Ganz Europa fahndet nach dem Mann, den ein Gefängnis in Werl in Sicherheitsverwahrung hatte. Unsere Redaktion rekonstruiert den Verlauf seiner Flucht.

 Die JVA Werl.

Die JVA Werl.

Foto: dpa/Jörg Taron

Wie gefährlich der 31-jährige Daniel V. ist, der Mittwoch während eines begleiteten Ausgangs aus der Haft fliehen konnte, hielten die Richter des Landgerichts Bielefeld schon im Oktober 2017 fest. „Es ist zu erwarten, dass er sich erneut bewaffnen und diese Waffen schon aus geringfügigen Anlässen einsetzen wird. Es ist mit erheblichen und sogar tödlichen Verletzungen seiner Kontrahenten zu rechnen.“

So begründeten die Richter damals, warum der Mann mit den serbischen Wurzeln, der in Deutschland geboren wurde, auch nach der Verbüßung seiner Haftstrafe nicht in die Freiheit entlassen werden sollte. Um die Allgemeinheit vor ihm zu schützen, ordneten die Richter im Anschluss an die gut dreieinhalbjährige Haft eine Sicherheitsverwahrung an. Aber auf den Tag genau ein Jahr nach Beginn der Sicherheitsverwahrung konnte V. am vergangenen Mittwoch fliehen. Bei einem Besuch der Wohnung seiner Eltern, den zwei bewaffnete Justizbeamte begleitet hatten. Seither fehlt von ihm jede Spur. Unserer Redaktion liegt das Protokoll der Flucht vor.

10. Februar 2015 „Daniel V. wurde (…) durch die 2. große Strafkammer des Landgerichts Bielefeld wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Führen einer halbautomatischen Kurzwaffe zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und acht Monaten verurteilt“, heißt es in einem noch unveröffentlichten Bericht der Landesregierung zu dem Fall. V., dessen Mutter in den Gerichtsakten als liebevoll beschrieben wird und der zusammen mit seiner Schwester aufwuchs, hatte da schon eine lange kriminelle Karriere hinter sich. Als Jugendlicher raubte er Menschen aus, die vom Geldautomaten kamen, überfiel Taxifahrer und eine Tankstelle. Im Februar 2015 wurde er verurteilt, weil er einem Türsteher ins Bein geschossen hatte.

18. September 2017 „Das Landgericht Bielefeld [ordnet] die zunächst vorbehaltene Sicherheitsverwahrung an. Das Urteil ist seit dem 23. 11. 2017 rechtskräftig“, heißt es in einem Bericht der Leitenden Oberstaatsanwältin in Bielefeld zum Vollstreckungsstand. Ein Gutachter hatte V. „paranoide Schizophrenie“ bescheinigt. Im Gefängnis soll er laut Medienberichten Wahnvorstellungen entwickelt, die Therapie verweigert und einen Mitgefangenen misshandelt haben.

20. März 2018 „Nach vollständiger Vollstreckung der Freiheitsstrafe befand sich der Verurteilte in der (…) JVA Werl in Sicherheitsverwahrung“, so der Bericht der Oberstaatsanwältin.

Sicherheitsverwahrte sitzen zwar meist in den gleichen Gefängnissen wie normale Häftlinge, haben aber einen völlig anderen Status. Im Gegensatz zu den anderen Häftlingen haben sie ihre Strafe bereits vollständig verbüßt. Sie werden ausschließlich deshalb weiterhin eingesperrt, weil sie als besonders gefährlich gelten. Diese Gefährlichkeit muss in einer Prognose – meistens in Form eines Gutachtens - festgestellt werden und sich zuvor in einer besonders schweren Straftat geäußert haben.

Weil die Sicherheitsverwahrung der Allgemeinheit dient und nicht der Bestrafung des Häftlings, müssen Sicherheitsverwahrten auch mehr Privilegien eingeräumt werden. Sie dürfen in der Regel zum Beispiel eigene Kleidung und Bettwäsche benutzen. Auch bei der Gestaltung der Zellen von Sicherheitsverwahrten muss die Gefängnisleitung mehr Rücksicht auf deren persönliche Belange nehmen.

Nach Angaben des NRW-Justizministeriums hatte Daniel V. Anspruch auf vier Ausführungen pro Jahr: Von bewaffneten Justizbeamten begleitete Ausflüge, die auch die spätere Integration in einen Alltag außerhalb der Haft vorbereiten sollen.

Mai 2018 V. wechselt in die sozialtherapeutische Abteilung der Justizvollzugsanstalt Werl. NRW-Justizminister Peter Biesenbach (CDU) berichtet unter Berufung auf einen Bericht der Gefängnisleiterin über den Stand der Dinge zu diesem Zeitpunkt: „Bislang wurden drei Ausführungen zur Erhaltung der Lebenstüchtigkeit durchgeführt, davon zwei im Stadtgebiet Werl (2018) und zuletzt in die elterliche Wohnung nach Bad Salzuflen (2019).“

20. März 2019, 12.50 Uhr An diesem Tag „gelang dem Untergebrachten bei einer Ausführung (…) die Flucht aus der elterlichen Wohnung. Bei dieser vierten Ausführung war der Untergebrachte erstmals nicht gefesselt. Die Ausführung wurde von zwei Bediensteten begleitet und fand zunächst im Stadtgebiet von Bad Salzuflen gemeinsam mit den Eltern des Untergebrachten statt. Im späteren Verlauf begab man sich in die elterliche Wohnung, um dort gemeinsam das Mittagessen einzunehmen. Kurz vor Antritt der Rückreise begab sich der Untergebrachte in das dortige Badezimmer, schloss sich ein und entwich aus dem Fenster. (…) Es besteht der Verdacht, dass der Untergebrachte mit dem Fahrzeug der Eltern floh“, heißt es in Biesenbachs Bericht.

12.52 Uhr Die Justizbeamten alarmieren das Gefängnis.

12.54 Uhr Die Justizbeamten setzen einen Notruf bei der Polizei ab.

gegen 13 Uhr Die ersten Einsatzkräfte der Polizei treffen ein.

16.50 Uhr Die Rufbereitschaft der Staatsanwaltschaft Bielefeld wird informiert. Gegen die begleitenden Justizmitarbeiter werden dienstaufsichtsrechtliche Maßnahmen eingeleitet.

Juristisch ist der Verzicht auf Fesseln unter Voraussetzungen durchaus vorgesehen. Die Ausführungen sollen die Sicherheitsverwahrten auf die Lebenswirklichkeit außerhalb der Haft vorbereiten. Als Gefesselte werden sie aber sofort als Gefangene identifiziert, was das Erleben normaler Alltagssituationen unmöglich macht.

21. März 2019 Bericht der Leitenden Oberstaatsanwältin in Bielefeld: „(…) Seitens der Kreispolizeibehörde Lippe wurden der Verurteilte und das von ihm genutzte Fahrzeug bundesweit zur Fahndung ausgeschrieben. Die Anschriften von bekannten Kontaktpersonen des Verurteilten wurden erfolglos überprüft.“ Die Staatsanwaltschaft Bielefeld erlässt Haftbefehl und ordnet die Öffentlichkeitsfahndung an. „Zurzeit gibt es keine Erkenntnisse, dass der Verurteilte seine Flucht zur Begehung weiterer Straftaten genutzt hat“, heißt es in dem Bericht.

22. März 2019 Der Präsident des Oberlandgerichts Hamm berichtet, dass Maßnahmen zum Schutz etwaig gefährdeter Justizbediensteter oder Verfahrensbeteiligter getroffen seien. Biesenbach erklärt: „Von weiteren Informationen muss derzeit abgesehen werden, um den Erfolg der Maßnahmen nicht zu gefährden.“

Anmerkung der Redaktion: Da der gesuchte Häftling inzwischen gefasst wurde, haben wir aus rechtlichen Gründen das Foto entfernt und den Namen abgekürzt.

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