Berlin Kultur zwischen Infarkt und Event

Berlin · In ihrem Buch "Der Kulturinfarkt" fordern die Autoren den kompletten Umbau unseres Kultursystems. Die öffentlichen Zuschüsse müssten weitgehend eingestellt und viele Kulturinstitute geschlossen werden. Die Verknappung des Angebots steigere die Nachfrage – und die Preise.

Im Untertitel tadelt das Buch, über das derzeit eine gehörige öffentliche Debatte geführt wird: Es gebe "von allem zu viel und überall das Gleiche". Die Autoren meinen das kulturelle Angebot im Land, dessen Organisation und Finanzierung extrem schwierig geworden seien. Deshalb heißt das Buch "Der Kulturinfarkt". These der Autoren: Öffentlich geförderte Kultur spalte die Gesellschaft, denn diese Förderung komme nur vergleichsweise wenigen Konsumenten zugute; außerdem habe die Sicherheit ihrer Bezuschussung die Macher einfallslos gemacht. Deshalb sehe man überall das Gleiche. Man müsse viel häufiger das Publikum fragen.

Die Autoren schüren eine uralte Neiddebatte, dabei handelt es sich um Soziologen und Kulturwissenschaftler, also Leute, von denen man keine Beißreflexe erwartet. Nun, die Schreiber zählen zu jener Spezies der Beflissenen, die über das Theater dozieren, ohne es von innen zu kennen. Das deutsche System ist in Wahrheit bedarfsorientiert wie kein anderes; es bedient mehr Kunden mit Mozarts "Zauberflöte" und Bizets "Carmen" (Spitzenreitern auf der Jahresliste des Deutschen Bühnenvereins) als mit Pendereckis "Die Teufel von Loudon". Trotzdem sei dieses Verwöhn- und Bedienverhalten an sich verwerflich, denn der Subventionsanteil pro Kaufkarte sei auch an gut verkauften Abenden mit optimaler Saalauslastung viel zu hoch. Man müsse das Angebot radikal verkürzen, die Preise heben und es machen wie in Amerika, wo sich etwa die Orchester selbst oder durch Sponsoren finanzieren. Es ist den Autoren entgangen, dass das US-amerikanische Orchestersystem zurzeit selbst vor dem Infarkt steht, weil viele Sponsoren ihr Förderverhalten neu justiert haben. Tatsächlich finden die Autoren, ein drakonisch hoher Preis für eine Opernkarte etwa hier in Nordrhein-Westfalen sei durchaus zu verantworten. Es funktioniere ganz leicht – man müsse nur fünf von sechs Opernhäusern abschaffen, schon regulierten sich Angebot und Nachfrage von selbst. Ziel dieses Radikalentwurfs: im Radius von hundert Kilometern nur noch ein Opernhaus, so weit würden die Fans fraglos fahren, wenn ihnen das Kulturgut Oper wichtig sei. Das bedeutet ganz regional: Die Häuser in Krefeld, Mönchengladbach, Aachen, Hagen, Münster, Wuppertal, Bielefeld, Gelsenkirchen, Duisburg, Dortmund, Bonn machen schon mal dicht, und Essen, Düsseldorf und Köln kloppen sich, wer übrig bleibt. Zahllose Rentner sehen wir schon spätabends über die NRW-Autobahnen irren. Nein, werden sie nicht, sie werden daheim bleiben und etwas vermissen.

Für diesen normalen Abonnenten gilt laut Autorenurteil übrigens, dass er in eine Aufführung gehe, ohne spirituell von ihr sonderlich viel mitzubekommen, denn das Niveau hierzulande sei ziemlich dürftig, zudem gehe es oft um "Kunstbesuch als Reliquienschau". Auf der anderen Seite mangele es an attraktiven Events, wie sie die großen internationalen Ausstellungen etwa in Berlin automatisch seien. Mit solcher Killermentalität, die draufhaut, ohne je das Publikum in Dinslaken oder Moers nach dem Grad seiner Angerührtheit gefragt zu haben, hält man sich schadlos – an den angeblich tumben Besuchern, doch auch an den fest installierten Intendanten, die unverdient viel Geld zugeschustert bekämen; viele freie Gruppen hingegen gingen oft leer aus, hätten keine Räume und so weiter.

Wenn eine Stadt ihre Oper, ihr Ballett oder ihr Theater verliere, dann sei das gar nicht schlimm, denn die freiwerdenden Räume könnten durch die freie Szene leicht besetzt werden. Ohnedies sei das klassische Ensemble-Theater veraltet, man müsse mehr auf Gastspiele und Kooperationen setzen.

Keiner der Autoren hat je das beeindruckende Niveau jener Tingeltourneen etwa der Staatsoper Warna (Bulgarien) erleben dürfen, die "Turandot" mit einer 62-jährigen Heulboje in der Titelpartie und einem 24-jährigen Hänfling als Kalaf an 27 Orten in 30 Tagen bot. Die richtigen Töne wurden erfreulich regelmäßig getroffen. Ist das ein erstrebenswerter Leuchtturm als Ausdruck des Gastspielsystems?

Man liest das Buch mit Verdruss, weil gute Vorschläge allesamt nicht eintreffen. In Wirklichkeit hätschelt es die Vorurteilsmaschinerie und verkennt, dass öffentliche Gemeinwesen viele Institutionen unterhalten, die nicht jedermann interessieren, aber trotzdem unentbehrlich sind. Dazu zählen die Theater ebenso wie die Gefängnisse oder die Tierheime. Sie alle zu besitzen ist Ausdruck einer beruhigenden Angebotsvielfalt, die sich jedes größere Gemeinwesen, das seine Zukunft auch durch die Pflege seiner Tradition sichert, etwas kosten lassen muss.

An die Zukunft denken die Autoren nicht. Auch das ist schade. Ihre Rechen- und Meckerkunst reicht bis zum Ende der Gegenwart.

(RP)
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