Autofreier Sonntag

1973 zwang die Ölkrise die Bundesregierung dazu, den Deutschen vier autofreie Sonntage zu verordnen. Sprit war knapp und teuer geworden. Die meisten Bürger nahmen die Anordnung gelassen hin, Bundeskanzler Willy Brandt ließ seinen Dienstwagen in der Garage. Die wenigen Menschen mit Ausnahmegenehmigung erlebten einen Spießrutenlauf.

Was nach Freiheit klingt, hat manchmal die Unfreiheit im Schlepptau. Der 25. November 1973 in Deutschland war so ein verhexter Tag, der als erster autofreier Sonntag in die Geschichte der Bundesrepublik einging. Wegen der Ölkrise herrschte Ausnahmezustand. Autos mussten in der Garage oder unter der Laterne bleiben. Niemand sollte Erledigungen welcher Art auch immer mit einem fahrbaren Untersatz verrichten, der Benzin verbrauchte.

Die vier autofreien Sonntage waren politisch von höchster Stelle verordnet, die Bundesregierung unter dem sozialdemokratischen Kanzler Willy Brandt hatte ein Energiesicherungsgesetz verabschiedet, Tempolimits wurden verhängt und die Abgabemengen für Treibstoff begrenzt. Die Politiker gingen mit einigermaßen gutem Beispiel voran. So verkündete der damalige Wirtschaftsminister Hans Friderichs (FDP), vorerst in seiner Bonner Zweitwohnung auf einen ölbeheizten Swimmingpool zu verzichten. Und der Bundeskanzler ließ seinen Dienstwagen in der Garage. Brandt zeigte sich am Tag des Herrn mit Spazierstock in der Hand.

Treibstoff sparen galt als erste Bürgerpflicht, denn erstmals waren das Öl und damit das Benzin in Deutschland knapp und empfindlich teuer geworden. Ein Liter Normalbenzin kostete 1973 etwa 75 Pfennig, 1972 war er noch für 58 Pfennige zu haben. Der Hochpreis verleidete der Nation der Autofahrer eines ihrer liebsten Hobbys – schon die Fahrt zur Zapfsäule wurde gleichsam zu einem Angang. Nur logisch also, dass Anfang der Siebziger Jahre aus Angst vor Benzinklau der abschließbare Tankdeckel in Serie ging.

Rund 13 Millionen Fahrzeuge waren vom Fahrverbot betroffen, Ausnahmegenehmigungen gab es nur vereinzelt. Wie selbstverständlich nahmen die Menschen den Straßenraum unbereift in Besitz. Mit überraschend wenig Protest, mit Gelassenheit und Improvisationstalent reagierten sie an diesem regnerischen Novembertag, an dem selbst pulsierende Verkehrsknotenpunkte wie das Kamener oder Breitscheider Kreuz völlig verwaist dalagen.

Was ließ sich nicht alles auf Asphalt veranstalten! In ländlichen Gegenden und kleineren Städten spannten Bürger sogar die Rösser ein und paradierten vor Passanten. Neidische Blicke waren ihnen gewiss. Auf der Autobahn nahe Köln trainierte der Marathonläufer Manfred Steffny mit anderen Leichtathleten zusammen, sie wurden gefeiert wie im Olympiastadion. In Essen stand die Polizei Gewehr bei Fuß, um einen Autokorso der DKP zu verhindern. Doch die Kommunisten kamen ohne Zündschlüssel, etwa 200 von ihnen zogen an Seilen ein Dutzend Kleinwagen durch die Stadt. Die Sprechchöre skandierten: "Erhard und die CDU machten unsere Zechen zu. Jetzt haben Friderichs, Brandt und Schmidt für kleine Leute keinen Sprit."

Die leer gefegten Straßen machten sich gut als neu gewonnene Spazierwege, Rollschuhbahnen, Fahrradpisten, Trimm-dich-Pfade und Abenteuerspielplätze. Jeder, so der Eindruck, machte das Beste draus. Erstaunlich selbstverständlich ging die Republik mit dem Fahrverbot um. Wer tatsächlich an diesem ersten Sonntag dienstlich nicht auf sein Auto verzichten konnte – wie Ärzte, Polizisten, Journalisten –, hatte seinen roten Ausnahmegenehmigungsschein hinter die Windschutzscheibe gelegt. Für manch einen geriet die Fahrt fast zum Spießrutenlauf. Etwa in Kalkar, wo ein Journalist auf dem Weg in den Sonntagsdienst just zum Ende des Hochamts das Zentrum passierte und sich massenhaft vorwurfsvolle Blicke und unüberhörbare Beschimpfungen von Menschen zuzog, die aus der Kirche strömten. Ein alter Mann hielt drohend seinen Stock Richtung Auto, so als wollte er zuschlagen.

Bei uns zu Hause beschwor das Sonntagsfahrverbot familienintern so große Verwerfungen wie die Ölkrise herauf. Denn sonntags fuhren wir immer zu den Großeltern – solange ich denken konnte, selbst im tiefen Winter. Wir, das waren mein Vater und ich – unsere sechsköpfige Familie passte längst nicht mehr zusammen in den VW-Käfer. Die Heimat meines Vaters lag 124 Kilometer über kurvige Eifelstraßen entfernt. Jeder Sonntag meiner Kindheit und Jugend verlief bei uns zu Hause nach demselben Ritual: Nach der Frühmesse fuhren wir los, zwei Stunden dauerte eine Strecke, bei der Oma gab es dann Mittagessen, Kaffee und Kuchen, es wurden Waren und kleinere Geldbeträge getauscht, dann fuhren wir wieder zurück – mit frisch duftendem Brot und anderen Leckereien aus Vaters Heimat im Kofferraum. Wie würde dieser Sonntag verlaufen, ein Sonntag ohne Großelternbesuch? Das war unvorstellbar.

Ehrlicherweise war die ganze Familie – außer meinem Vater – verrückt darauf, leere Straßen gucken zu gehen. Die Nachbarfamilie, die Kinder waren unsere besten Freunde, waren schon auf Rollschuhen zum normalerweise vielbefahrenen Aachener Alleenring losgezogen; selbst das Familienoberhaupt hatte sich Rollschuhe untergeschnallt, er gab eine lächerliche Figur ab. Wir wollten unbedingt auf die Autobahn, die von Aachen über Köln bis nach Berlin führt, und wir wollten erleben, wie sie sich so menschenleer darstellte. Auf jeden Fall wollten wir mit dem Fahrrad los und es genießen, dass die Angst vor Autos und ihren Abgasen ausnahmsweise gegenstandslos war. Wir Kinder waren selbstverständlich für den autofreien Sonntag, denn wir waren alt genug, den Ernst der Lage zu begreifen, wenn in ganz Deutschland ein Fahrverbot ausgesprochen wird. In der Schule war das Thema in aller Ernsthaftigkeit mit meiner Klassenlehrerin und in Sozialkunde besprochen wurden.

Die Ölkrise hatte sich durch die kriegerischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten angebahnt. Die Initialzündung lag schon lange zurück. Im Sechs-Tage-Krieg von 1967 hatte Israel den Gazastreifen besetzt, die Halbinsel Sinai bis zum Suezkanal, Westjordanien einschließlich der Altstadt von Jerusalem und die Golanhöhen, die Teile Syriens waren. Selbstredend wollten die arabischen Länder diese Gebiete wieder zurückerobern, die Aggressionen und Militärattacken hatten sich verschärft. Im Oktober 1973 hatten ägyptische und syrische Truppen Israel überfallen, am jüdischen Feiertag Jom Kippur, dem Tag der Versöhnung. Syrien erzielte auf den Golanhöhen, Ägypten auf der Sinaihalbinsel anfängliche Erfolge. Allerdings unterstützten die USA Israel mit erheblichen militärischen Mitteln. Schließlich konnte Israel den Kriegsverlauf zu seinen Gunsten wenden.

Die arabischen Staaten hatten währenddessen das Öl als moderne Waffe entdeckt und dem Westen gedroht, den Ölhahn langsam zuzudrehen. Am 25. Oktober 1973 verhängten die Erdöl exportierenden Staaten einen Lieferboykott gegen Länder, die Israel gewogen waren. Ab dem 5. November wurde die Ölförderung um 25 Prozent gedrosselt. Als "feindlich" eingestufte Länder wie die Niederlande oder die USA mussten ganz auf Lieferungen arabischen Öls verzichten. Der Ölpreis stieg damals von drei auf fünf, später auf knapp zwölf Dollar je Barrel (159 Liter).

Die Preise für das schwarze Gold waren explodiert. Man war in einer Zeit der wirtschaftlichen Depression angekommen, Bonn kündigte Entbehrungen an, der damalige Bundesfinanzminister Helmut Schmidt (SPD) sprach von "viel Schweiß, Sparsamkeit und Solidarität zur Meisterung der Probleme".

Der erste autofreie Sonntag 1973 war für die Deutschen ein heilsamer Schock. Es bildete sich ein neues, kritisches Bewusstsein über die Grenzen des Wachstums. Die Daumenschraube der Ölländer zeigte sich zwar unmittelbar beim Auto, machte aber den hohen Grad an Labilität der gesamten Wirtschaft in einem freien Welthandel deutlich. Die Autobauer begannen verstärkt, sparsame Motoren zu bauen.

Unsere Familie verbrachte diesen Sonntag zum ersten Mal getrennt, der Vater war mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs in der Eifel, während sich seine Kinder auf der Autobahn vergnügten und die Autos pro Stunde zählten, die auf ihr fuhren.

Die Firma Porsche sandte ihren Neuwagenkäufern Ende 1973 einen Trostbrief, unterschrieben von Ex-Rennfahrer Fritz Huschke von Hanstein, der Porsche-Repräsentant geworden war. Als "Vollblutfahrer" solle man nicht unglücklich sein über die "Restriktionen", stand in dem Schreiben zu lesen, die Zeiten würden auch wieder besser. Jede Krise finde einmal ihr Ende.

Das Gegenteil ist der Fall, Benzin kostet heute, 38 Jahre später, fast das Vierfache. Und die nächste Ölkrise im Schlepptau einer politischen Krise ist zu befürchten.

Online Die Serie im Internet unter www.rp-online.de/panorama

(RP)
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