Jonas Vingegaard als neuer Tour-Favorit Der Spätstarter aus der Fischfabrik

Col du Granon · Vor vier Jahren verbrachte Jonas Vingegaard den Sommer noch mit Fischputzen. Nun trägt er Gelb bei der Tour de France, fuhr dem großen Favoriten Tadej Pogacar davon und darf auf den Gesamtsieg hoffen. Sein Team setzt jedoch auf Methoden, die umstritten sind.

Jonas Vingegaard gewann die 11. Etappe der Tour de France am Col du Granon.

Jonas Vingegaard gewann die 11. Etappe der Tour de France am Col du Granon.

Foto: dpa/David Pintens

Die Kameraführung ist verwackelt, die Bilder so trüb und unscharf, wie TV-Aufnahmen aus heutiger Sicht in den 1980ern nun mal aussehen. Der Mann im Gelben Trikot ist trotzdem zu erkennen. Sein Tritt ist stampfend, sein Blick sehnt sich nach dem Zielstrich, der Körper kommt jedoch nur mühsam auf dieser brutal ansteigenden Bergstraße vorwärts. Alles eingefangen von einem Kameramotorrad, das nicht mehr von seiner Seite weicht. Denn es ist ein Moment der Niederlage, der festgehalten werden muss – und heute immer noch im Internet anzusehen ist. Es waren die letzten Kilometer der 17. Etappe der Tour de France 1986, es ging hinauf zum Col du Granon, und Bernard Hinault, der große Dominator, zuvor fünfmal Sieger der Tour de France, quälte sich abgeschlagen mit Wadenproblemen diese Alpenrampe hoch. Der Franzose verlor an diesem Tag das Gelbe Trikot. Und trug es danach nie wieder.

Seitdem muss Hinault damit leben, dass der Col du Granon bei jeder Erwähnung als sein „Schicksalsberg“ betitelt wird. Konkurrenz für diese Bezeichnung war derweil nie in Sicht, denn nach 1986 fand aus organisatorischen Gründen keine Ankunft mehr auf dem 2400 Meter hohen Alpenpass statt. Erst in diesem Jahr wagte sich die Tour wieder dort hoch. Erneut mit denkwürdigem Ausgang für den Mann in Gelb.

Den Col du Granon nun als „Schicksalsberg“ für Tadej Pogacar zu bezeichnen, geht zu weit. Die Radsportwelt bekam jedoch etwas zu sehen, was sie bislang nicht kannte: Einen Pogacar, der zunächst die Attacken nicht mitgehen konnte, der kraftlos wirkte, von weiteren Konkurrenten abgehängt wurde und sich schließlich mit 2:51 Minuten an Rückstand ins Ziel kämpfte. „Es war nicht mein bester Tag“, sagte Pogacar hinterher. Wie damals Hinault verlor auch er das Gelbe Trikot, soweit gleicht sich die Geschichte, wobei zu bezweifeln ist, dass Pogacar nun nie wieder in Gelb fährt.

Vorerst trägt allerdings erstmals Jonas Vingegaard, 25, das Führungstrikot. Er gewann nicht nur die Etappe am Col du Granon, sondern setzte rund fünf Kilometer vor dem Ziel den entscheidenden Angriff, dem Pogacar nicht mehr folgen konnte. Vingegaard war als Teil einer Doppelspitze seiner Mannschaft Jumbo-Visma ins Rennen gegangen, stellte sich im Verlauf der Rundfahrt jedoch als stärker als sein Teamkollege Primoz Roglic heraus – und als bislang ärgster Verfolger von Pogacar. Vor der Etappe trennten beide 39 Sekunden. Nun liegt Vingegaard 2:22 Minuten vor dem Slowenen.

Vor vier Jahren dürfte der Däne indes nicht im Entferntesten an Gelb, nicht einmal an eine Tour-Teilnahme gedacht haben. Während andere Talente früh Profi werden oder zumindest internationale Junioren-Erfolge feiern, verbrachte er den Sommer 2018 ab sechs Uhr früh in einer Fischfabrik, um gefangenen Fisch zu putzen und für den Verkauf vorzubereiten. Erst danach ging es aufs Rad. Vingegaard fuhr damals für ein drittklassiges dänisches Radteam. Anbahnende Profikarrieren sehen in der Regel anders aus.

Als Jumbo-Visma auf sein Team zukam, galt das Interesse ursprünglich auch einem anderen Fahrer. Diese Verpflichtung zerschlug sich jedoch. „Der Sportdirektor hat uns dann Jonas empfohlen und ihn als echtes Supertalent bezeichnet“, sagt Grischa Niermann. Der Hannoveraner, Ex-Profi, ist heute Sportlicher Leiter bei Jumbo-Visma, damals Talentscout. Mit Vingegaard landete er unverhofft einen Volltreffer. Denn das Potenzial des Dänen, so stellte das Team fest, war groß, es wurde nur noch nie richtig gefördert. „Da er neben dem Radsport lange gearbeitet hat, ist er mit seiner Entwicklung noch lange nicht am Ende“, sagt Niermann. Im Vorjahr erreichte Vingegaard bereits Platz zwei der Tour.

Nun, da in Gelb gekleidet, darf sich seine niederländische Mannschaft berechtigte Hoffnungen auf den lang ersehnten ersten Tour-Sieg machen. Die Equipe gehört seit Jahren mit Top-Leuten wie Wout van Aert oder Roglic zu den erfolgreichsten Mannschaften im Sport, alleine bei dieser Tour gab es bereits drei Etappensiege. Nur der angepeilte Gesamtsieg gelang bislang nie.

Über Jumbo-Visma wird allerdings nicht nur wegen deren Erfolge geredet. Es geht auch um Ketone, einem grundsätzlich körpereigenen Stoff, der, wenn keine Kohlenhydrate mehr zur Verfügung stehen, als weiterer Energieträger wirkt. Jumbo-Visma setzt zusätzlich auf eine externe Einnahme von Ketonen – nicht als einziges Team im Profiradsport. Da das Mittel nicht auf der Verbotsliste der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) steht, ist das erlaubt. Der Einsatz ist trotzdem umstritten.

Der Radsportweltverband mahnte im Vorjahr, auf Ketone zu verzichten, da zu deren Gebrauch noch Studien laufen. Jumbo-Visma ignorierte das, verwies auf eigene Empfehlungen von Experten. „Solange sie erlaubt sind, haben wir das Recht, sie zu testen und zu sehen, ob sie einigen unserer Fahrer helfen“, sagte Sportdirektor Merijn Zeeman der französischen Zeitung „L’Equipe“. Eine Arbeitsweise im Grenzbereich. Anschuldigen aus französischen Teams bezüglich des Einsatzes von Ketonen entgegnete Zeeman, dort würde man „nicht mit der gleichen Professionalität wie wir“ arbeiten.

Solange Vingegaard in Gelb ist, dürften Ketone ein Thema bei dieser Tour bleiben. Dass Pogacar aber keinesfalls abzuschreiben ist, weiß Jumbo-Visma aus eigener Erfahrung: 2020 entriss er Roglic auf der vorletzten Etappe noch den Tour-Sieg. Und auch ein Einbruch am Col du Granon muss nicht zwingend etwas für die kommenden Tage bedeuten. Hinault gewann 1986 nur einen Tag später die Etappe nach Alpe d’Huez. Eine weitere Parallele zur diesjährigen Austragung: Auch dieses Mal folgt auf den Col du Granon die Ankunft an der Alpe d’Huez. Vingegaard, der Junge aus der Fischfabrik, dürfte gewarnt sein.

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