„Wo war die Welt?“ Überlebende klagt auf Holocaust-Gedenkfeier Verantwortungslosigkeit der Welt an

Oswiecim/Frankfurt a.M. · Zum 75. Gedenktag der Befreiung von Auschwitz sind neben Politikern aus aller Welt viele Überlebende nach Polen gereist. Eine von ihnen erinnerte in einer Rede an die Verantwortungslosigkeit.

 Die Holocaust-Überlebende Bat-Sheva Dagan hält auf der Gedenkveranstaltung eine Rede.

Die Holocaust-Überlebende Bat-Sheva Dagan hält auf der Gedenkveranstaltung eine Rede.

Foto: AFP/WOJTEK RADWANSKI

Gedenken, Mahnen, Erinnern: 75 Jahre nach der Befreiung des NS-Konzentrationslagers Auschwitz ist am Montag weltweit der Opfer des Nationalsozialismus gedacht worden. In die Erinnerung an das Leid der Opfer mischten sich eindringliche Appelle, politischem Extremismus entschieden entgegenzutreten. Am 27. Januar 1945 hatte die Rote Armee das NS-Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau befreit. Allein dort hatten die Nationalsozialisten 1,1 Millionen Menschen, hauptsächlich Juden, ermordet.

Bei der Gedenkfeier auf dem ehemaligen KZ-Gelände standen die Überlebenden im Mittelpunkt. Vier von ihnen sprachen zu den 2.000 Gästen. Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier war nach Polen gereist und hatte sich von Überlebenden begleiten lassen.

Die 95-jährige Bat-Sheva Dagan nannte Auschwitz eine „teuflische Welt“, in der die Menschenwürde nichts zählte. Die heute in Tel Aviv lebende Jüdin erinnerte vor den internationalen Gästen aus aller Welt an die Verantwortungslosigkeit der Weltgemeinschaft. „Wo wart ihr, wo war die Welt, die sah und hörte und nichts tat, um diese vielen Tausend zu retten?“, fragte sie. Bewegt verlieh sie auch ihrer Sprachlosigkeit Ausdruck. „Was soll ich sagen? Denn nur mit Tränen kann ich diese Vergangenheit begießen“, sagte sie.

Vor den Redebeiträgen der Überlebenden hatte der polnische Präsident Andrzej Duda als einziger Politiker gesprochen. „Wir stehen vor den Toren dieses Lagers, das zum Symbol zur Massenvernichtung wurde“, sagte er. Polen fühle sich weiterhin der Pflege der Erinnerung und dem Schutz der Wahrheit verpflichtet, versprach er den rund 200 anwesenden Überlebenden unter den Gästen. Etwa 25 Staats- und Regierungschefs verfolgten die Reden, darunter neben Steinmeier auch der israelische Staatspräsident Reuven Rivlin und der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban.

Der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Ronald S. Lauder, klagte in seiner Ansprache die internationale Gemeinschaft an. „Zu viele Menschen in zu vielen Ländern haben Auschwitz möglich gemacht“, sagte Lauder. Nicht nur die Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 habe Auschwitz ermöglicht, sondern der weltweite Antisemitismus. Heute höre man wieder dieselben Lügen, die die Nationalsozialisten für ihre antijüdische Propaganda eingesetzt hätten. „Wir werden das tödliche Virus namens Antisemitismus niemals ausrotten können“, sagte Lauder.

„Wer den Weg in die Barbarei von Auschwitz kennt, der muss den Anfängen wehren“, hatte Bundespräsident Steinmeier vor der zentralen Gedenkveranstaltung ins Gästebuch der Gedenkstätte geschrieben. „Das ist Teil der Verantwortung, die keinen Schlussstrich kennt.“

Zum internationalen Holocaust-Gedenktag posteten in sozialen Netzwerken Menschen unter dem Hashtag #WeRemember. Rund 100 Bildungs- und Gedenkstätten in Deutschland beteiligten sich zum Holocaust-Gedenktag an der Aktion „#LichterGegenDunkelheit“. Mit Lichtinstallationen wurden die Einrichtungen bei Einbruch der Dunkelheit angeleuchtet.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki wurden für den Abend in der Berliner Staatsoper zu einem Benefizkonzert unter Leitung von Dirigent Daniel Barenboim erwartet. Merkel hatte zuvor im Netzwerk Instagram gepostet: „Wir dürfen niemals vergessen. Einen Schlussstrich kann es nicht geben - und auch keine Relativierung.“ Sie zitierte dabei Worte, die sie bei ihrem Besuch in Auschwitz-Birkenau am 6. Dezember geäußert hatte.

epd co/hei/kfr

(ala/epd)
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