Kampf um bedrohtes Kulturgut Die zweite Sintflut überlebt Hasankeyf nicht

Hasankeyf · Für ein monumentales Staudammprojekt im Osten des Landes lässt die türkische Regierung eine uralte Stadt fluten.

 Alle Proteste haben nichts gebracht: Hasankeyf wird bald in den Fluten eines neuen Stausees verschwinden. Darunter auch die Reste der ersten Mautbrücke der Welt, deren Pfeiler bis heute in der Mitte des Tigris aufragen (im Bild rechts). 

Alle Proteste haben nichts gebracht: Hasankeyf wird bald in den Fluten eines neuen Stausees verschwinden. Darunter auch die Reste der ersten Mautbrücke der Welt, deren Pfeiler bis heute in der Mitte des Tigris aufragen (im Bild rechts). 

Foto: picture alliance / NurPhoto/Diego Cupolo

Ein Gebet zum Abschied sprach eine Anwohnerin, bevor die historische Er-Rizk-Moschee aus der Stadt Hasankeyf abtransportiert wurde. Vor mehr als 600 Jahren in der Stadt am Tigris erbaut, wurde die Moschee vor wenigen Wochen versetzt in einen sogenannten Kulturpark in höherer Lage über dem Tigris. 1700 Tonnen schwer ist das historische Bauwerk; die Ingenieure waren stolz, dass sie es unversehrt auf ihren eigens konstruierten Tieflader bekamen. Mit der Aktion soll die Moschee vor dem steigenden Wasser des Ilisu-Staudamms im Südosten der Türkei gerettet werden. Als der Transport anrollte, kamen der alten Frau die Tränen.

Gut zehn Jahre ist es her, dass die Regierungen von Deutschland, Österreich und Schweiz ihre Kreditgarantien für den Ilisu-Staudamm zurückzogen. Die Türkei könne den Schutz von Umwelt, Menschen und Kulturgütern im Flutungsgebiet am Tigris nicht gewähren, begründeten die Geldgeber ihre Entscheidung. Die Türkei hat den Damm dennoch gebaut und im vergangenen Sommer begonnen, den Tigris aufzustauen.

Der Ilisu-Damm gehört zu einem Netz aus mehr als 20 Staudämmen in Südostanatolien. Die Regierung in Ankara will mit dem Wasser aus dem Stausee elektrischen Strom erzeugen, der einen Wirtschaftsaufschwung in der armen Gegend ermöglichen soll. Bis zur Mitte des Jahres werde der Ilisu-Damm etwa 2700 Megawatt Strom liefern, erklärte Mevlüt Aydin, der Chef des türkischen Wasserwirtschaftsamtes, Mitte Januar. Bei voller Auslastung sollen es 4000 Gigawatt pro Jahr werden – genug für viele Privathaushalte und künftige Fabriken in der Region.

Das steigende Wasser hat bereits 35 Dörfer in der Gegend verschluckt, wie Staudamm-Gegner mitteilen. Nun haben die Fluten auch die uralte Stadt Hasankeyf erreicht, um deren Schutz sich die europäischen Kreditgeber vor allem gesorgt hatten; voraussichtlich bis Februar wird die Stadt im Stausee untergegangen sein. Zeugnisse aus einer zehntausendjährigen Zivilisationsgeschichte werden mit Hasankeyf versinken. Als letztes von sieben Kulturdenkmälern verließ die Er-Rizk-Moschee die Kleinstadt am Tigris – was jetzt noch hier ist, wird überwiegend in den Fluten untergehen.

Bevor das Wasser kam, bot ein Aufstieg auf die Kalksteinklippen über dem Tigris in Hasankeyf einen Überblick darüber, was alles im Stausee versinken wird. Die Assyrer, die Meder und die Perser siedelten schon vor Beginn der modernen Zeitrechnung in Hasankeyf. In den Jahrhunderten nach Christus wurde die Stadt von den Byzantinern beherrscht, dann von den Artukiden, den Akkoyunlu, den Seldschuken und den Osmanen.

Zu den Überresten dieser Geschichte gehören mehrere mächtige Brückenpfeiler im Tigris. „Das sind die Überreste der größten Steinbrücke des Mittelalters“, erläuterte ein einheimischer Führer vor der Flutung. „Die ist ursprünglich von den Assyrern erbaut worden, 1000 Jahre vor Christus, aber die jetzigen Überreste stammen aus artukidischer Zeit. Es heißt, dass dies die erste Mautbrücke der Welt war. Sie war zweistöckig – im unteren Stock gingen die Menschen über den Fluss, der obere Stock wurde von den Karawanen genutzt.“

Auch prächtige Grabmäler aus der Zeit der Akkoyunlu und aus der seldschukischen Ära am anderen Tigris-Ufer waren vom Burgberg aus zu sehen, darunter das Zeynel-Bey-Grabmal aus dem 15. Jahrhundert mit seinem kunstvollen Mauerwerk und seinen blaugrünen Kachelverzierungen, dessen bemooste Kuppel das Tigris-Tal dominiert.

Ein frühchristlicher Kirchenbau krönt den Festungshügel – der Rest der Stadt ist dem Untergang geweiht. Bis zu den Lautsprechern am Minarett einer Moschee, das derzeit rund 50 Meter über dem Tigris aufragt, soll das Wasser steigen. Die Unterstadt von Hasankeyf wird komplett im Stausee verschwinden, die Brücke, die Grabmäler und Moscheen, alles.

Nur der Gipfel des Palasthügels wird noch aus dem Wasser aufragen. Mit Ausflugsbooten sollen Touristen künftig dorthin gebracht werden, um die verbliebenen Kulturgüter auf der Anhöhe zu besichtigen – so haben es die türkischen Behörden geplant. Die Er-Rizk-Moschee wird ebenso wie das Zeynel-Bey-Grabmal und ein halbes Dutzend weitere Bauten aus der Unterstadt im neuen Kulturpark außerhalb vom Flutungsgebiet zu sehen sein, in den sie umgesiedelt wurden – sehr zum Bedauern von Anwohnern und Aktivisten, die vergeblich für den Erhalt des Kulturerbes gekämpft haben.

Ridvan Ayhan von der Initiative für Hasankeyf sagte der örtlichen Agentur Mesopotamya, der Abtransport von Kulturgütern sei höchst problematisch. „Das hat es in der Menschheitsgeschichte noch nicht gegeben, dass historische Bauten versetzt werden“, sagte Ayhan. „Wir sind der Überzeugung, dass diese Kulturdenkmäler an ihrem Ursprungsort erhalten und gepflegt werden sollten. Durch die Verpflanzung dieser Bauten ist Hasankeyf zerstört worden. Dass die Unesco das zugelassen und nicht protestiert hat, ist völlig unverständlich.“

Dabei hatte Hasankeyf quasi bis zur letzten Stunde noch neue Schätze der Kulturgeschichte hervorgebracht. Um eine Schneise für den Abtransport der Er-Rizk-Moschee freizuschlagen, ließen die Behörden zuletzt noch die moderne Marktstraße von Hasankeyf abreißen. Dabei kamen unter den Geschäften weitere unerforschte Kulturgüter ans Tageslicht – Bauten aus osmanischer und darunter sogar noch aus römischer Zeit. Hastig arbeiteten Archäologen, um die wichtigsten Funde zumindest noch zu dokumentieren, bevor sie jetzt geflutet werden.

All dies sei ein historischer Verlust nicht nur für die Türkei, sagte der Aktivist Emin Bulut von der Initiative für Hasankeyf: „Als zweite Sintflut wird dieses Projekt manchmal bezeichnet, aber nach der Sintflut ist ja alles wieder neu zum Leben erwacht“, sagte er. Bulut vergleicht das Vorhaben deshalb eher mit der Invasion der Mongolen, die seinerzeit alles vernichtet und dem Erdboden gleich gemacht hätten. „Genau das tun nun die großen Baufirmen mit staatlicher Unterstützung: Sie vernichten das kulturelle Menschheitserbe. Und wir können nichts dagegen tun. Europa schweigt, die Welt schweigt, alle schweigen dazu.“

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