Interview Jessica Rosenthal (SPD) „Man muss es auch mal aushalten, wenn man dem Diktator vor den Kopf stößt“

Interview | Berlin · An diesem Wochenende treffen sich die Jusos zum Bundeskongress in Oberhausen. Die Chefin der SPD-Nachwuchsorganisation, Jessica Rosenthal, über die Aufnahme von Flüchtlingen, eine notwendige Vermögensabgabe von Reichen und welche Erwartungen sie an Bundeskanzler Olaf Scholz vor dessen China-Reise hat.

 Jessica Rosenthal (30), Bundesvorsitzende der Jusos.

Jessica Rosenthal (30), Bundesvorsitzende der Jusos.

Foto: Thomas Trutschel / dpa

Frau Rosenthal, stehen die Jusos noch hinter der Ampel-Bundesregierung?

Rosenthal Auf jeden Fall stehen wir hinter der SPD und hinter unseren Zielen. Und weil wir die umsetzen wollen, stehen wir hinter dieser Koalition. Zur Wahrheit gehört auch, dass wir natürlich am Handeln der Bundesregierung auch Kritik haben. Das liegt aber in erster Linie an den Impulsen von Grünen und FDP.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser, deren Flüchtlingspolitik Sie jüngst anprangerten, ist von der SPD.

Rosenthal Es stimmt, dass wir nach viel Lob für unsere Innenministerin, die in Hanau Anteil nimmt oder die Regenbogenflagge vor dem Ministerium hisst, hier auch deutliche Kritik formuliert haben. Denn in der Sache kann es nicht sein, dass wir Geflüchtete von der Balkan-Route sagen, sie dürfen nicht kommen, während wir den Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine helfen können. Unsere Solidarität muss allen Geflüchteten gelten.

Viele Kommunen, bis hin zur Bundeshauptstadt, haben aber schon Alarm geschlagen, dass sie an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen für die Aufnahme von Geflüchteten.

Rosenthal Solche Signale nehme ich sehr ernst und wir wertschätzen enorm, was die Kommunen für Geflüchtete jeden Tag leisten. Aber wenn ich mir anschaue, was die polnische Gesellschaft für Geflüchtete aus der Ukraine tut, ist bei uns sicher auch noch Luft nach oben. Wir müssen die Geflüchteten besser verteilen und dürfen die Lasten natürlich nicht allein den Kommunen überlassen.

Also sollten, anders als es Innenministerin Nancy Faeser will, auch mehr Menschen aufgenommen werden, die über die Balkan-Route kommen?

Rosenthal Jeder Mensch, der zu uns flieht, hat einen triftigen Grund dafür. Wir dürfen Menschen und ihre Fluchtgründe nicht nach erster und zweiter Klasse aufteilen. Aber neben größerer nationaler Anstrengungen braucht es auch endlich ein gemeinsames Vorgehen in der EU. Nicht nur Deutschland kann Geflüchtete aufnehmen. Vor allem müssen wir die Ursachen von Flucht bekämpfen, auch deshalb brauchen wir mehr Geld für die Entwicklungszusammenarbeit.

Die Länder beklagen, dass der Bund noch immer keine Lösung bei der Finanzierung der Flüchtlingskosten angeboten hat.

Rosenthal Ja, da braucht es jetzt schnelle Antworten, denn die Zeit drängt. Überhaupt braucht es Entscheidungen mit Blick auf die Verteilung der 200 Milliarden Euro, die der Bund zur Entlastung an vielen Stellen ausgeben will.

Von dem Geld soll unter anderem die Gaspreisbremse bezahlt werden. Doch im Januar und Februar zeichnet sich bislang eine Lücke bei der Unterstützung der Gaskunden ab. Wie sollte diese geschlossen werden?

Rosenthal Es ist richtig, dass die Expertenkommission die Übernahme einer Abschlagszahlung für Dezember vorgeschlagen hat, bevor ab März die Gaspreisbremse ziehen soll. Wir Jusos rufen die Bundesregierung und die Versorger auf, noch einmal eindringlicher zu prüfen, ob ein Vorziehen der Gaspreisbremse auf Januar nicht doch möglich ist. Dieses Land hat in Krisenzeiten immer wieder bewiesen, dass scheinbar unmögliche Dinge plötzlich doch klappen. Da sollten Existenzen von Menschen und Unternehmen doch nicht durch Schwierigkeiten in der Verwaltung aufs Spiel gesetzt werden.

Und wenn es bei einem Nein zum Vorziehen der Bremse bleibt?

Rosenthal Kann die Gaspreisbremse nicht ab Januar ziehen, braucht es die Übernahme einer weiteren Abschlagszahlung im Januar oder Februar. Aber auch beim öffentlichen Nahverkehr braucht es dringend weitere Gespräche. Das Neun-Euro-Ticket war eines der besten politischen Projekte der vergangenen Jahrzehnte. Diesen Erfolg hätte man im August niemals auslaufen lassen dürfen. Das deutschlandweit gültige 49-Euro-Ticket ist ein großer Schritt, wird aber sicher nicht dieselbe Akzeptanz haben. Ich hätte mir ein Nachfolgeticket für höchstens 29 Euro gewünscht.

Werden die 200 Milliarden Euro angesichts der zahlreichen Aufgaben, die daraus finanziert werden sollen, reichen können?

Rosenthal Das kann jetzt noch niemand abschätzen. Klar ist aber, dass es auch künftig kein Zögern geben sollte, wenn derlei große Summen nötig werden zur Bekämpfung dieser Krise.

Auch wenn das mehr Schulden für künftige Generationen bedeutet, für die Sie doch eigentlich einstehen?

Rosenthal Ja, denn uns bringt auch für die Zukunft wenig, wenn das Land in dieser Krise in die Knie geht. Der Erhalt des gesellschaftlichen Zusammenhalts und des Wirtschaftsstandorts Deutschland gehen vor. Wir wollen Solidarität mit allen, die unter dieser Krise leiden. Koste es, was es wolle.

Sollte also die Schuldenbremse auch für 2023 gekippt werden?

Rosenthal Unbedingt! Ich kann nicht verstehen, warum die FDP weiterhin daran festhält.

Um die Inflation nicht weiter anzutreiben.

Rosenthal Die Inflation wird aktuell vor allem von den Energiepreisen getrieben – man sollte da die Ursachen schon sehr genau analysieren. Ich glaube eher, dass es der FDP um Ideologie geht, obwohl sie ihren Koalitionspartnern gern selbst diesen Vorwurf macht. Es darf keine Denkverbote und keine verbohrte Ideologie geben, dafür ist in dieser Krise kein Platz. Eine pragmatische Lösung wäre, die Schuldenbremse auszusetzen, um auch den Bundesländern die Grundlage zu geben, Maßnahmen mit Krediten finanzieren zu können. Die können keine Schulden aufnehmen, wenn der Bund keine Notlage definiert und die Schuldenbremse aussetzt. Man kann gegen eine solche Krise schlicht nicht ansparen.

Ihre Parteivorsitzende Saskia Esken hat sich hinter den Vorschlag gestellt, die Vermögensteuer einzuführen. Wie kurzfristig wäre das aus Ihrer Sicht möglich?

Rosenthal Ich sehe in dem aktuellen Bündnis mit FDP und Grünen leider wenig Spielraum, auch wenn ich mir eine Vermögensteuer noch in der laufenden Legislatur wünsche. Viel wichtiger und schneller umsetzbar ist aus meiner Sicht eine Vermögensabgabe bei den sehr Wohlhabenden. Das ließe sich schnell organisieren und würde ein extrem wichtiges Signal für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in einer der schwersten Krisen seit dem Zweiten Weltkrieg setzen. Bislang machen sich die Reichen in dieser historischen Zeit noch immer einen schlanken Fuß.

Ab welchem Vermögen sollte eine solche Abgabe denn greifen und wie hoch sollte sie ausfallen?

Rosenthal Vorstellbar wäre, dass solch eine Abgabe auf Privatvermögen ab zwei Millionen Euro und auf Betriebsvermögen ab fünf Millionen Euro zu leisten ist. Die Höhe der Abgabe sollte bei zehn Prozent starten und auf bis zu 30 Prozent steigen und bei besonders hohen Vermögen ab 50 Millionen Euro sogar bis zu 50 Prozent betragen. Solch eine Lösung würde gerade jetzt dafür sorgen, dass Superreiche ihren gerechten Beitrag zur Finanzierung beitragen und wäre auch durch das Grundgesetz gedeckt.

Erwarten Sie von Ihren Parteivorsitzenden, dass sie die Vermögensabgabe und das Aussetzen der Schuldenbremse beim nächsten Koalitionsausschuss auf den Tisch packen?

Rosenthal Klares Ja. Die SPD muss für ihre Inhalte streiten, wenn es darauf ankommt. Forderungen sind leicht aufgestellt. Aber wir sind ja in Regierungsverantwortung und stellen sogar den Kanzler. Da wünsche ich mir noch mehr Selbstbewusstsein unserer Parteispitze, wenn es um unbequeme Positionen in der Koalition geht.

Wie angeschlagen ist der Kanzler, nachdem er beim AKW-Streit ein Machtwort sprechen musste und auch im Ringen um den chinesischen Einstieg im Hamburger Hafen allein dastand?

Rosenthal Ich nehme Olaf Scholz nicht als angeschlagen wahr.

Halten Sie die Bundesregierung für zu naiv im Umgang mit China?

Rosenthal Wir dürfen im Umgang mit China nicht die gleichen Fehler wiederholen, die wir mit Russland gemacht haben. Das muss jetzt hohe Priorität bei uns allen haben. Insbesondere kritische Infrastruktur gehört schlichtweg nicht in private, sondern allein in öffentliche Hand.

Was wünschen Sie sich also vom Kanzler, wenn er kommende Woche nach Peking fliegt?

Rosenthal Olaf Scholz muss bei seiner China-Reise ganz deutlich machen, wo die Grenzen bei Geschäften mit einer Demokratie sind. Es kann nicht sein, dass China glaubt, mit Druck seinen Einfluss derart ausbauen zu können, ohne auch deutschen oder europäischen Unternehmen solche Investitionen in chinesische Infrastruktur zu gewähren. Da muss man es als Bundesregierung auch mal aushalten, wenn man dem Diktator Xi Jinping vor den Kopf stößt. Denn gibt man dem Druck nach, vertieft sich die Abhängigkeit nur immer mehr.

Eine weitere Baustelle sind die Klimaziele, die die Bundesregierung einhalten will. Wie realistisch ist das noch angesichts der Energiemaßnahmen, die jetzt in der Krise ergriffen werden mussten?

Rosenthal Kohlekraftwerke länger laufen zu lassen, hilft dabei sicher nicht. Es gab wegen der Abhängigkeit von Russland alternativlose Entscheidungen, die richtig waren, mit denen wir uns im Kampf gegen den Klimawandel aber versündigt haben.

Was ist zu tun?

Rosenthal Jetzt gilt es, bei der anstehenden Klimakonferenz wenigstens zu unserer Verantwortung gegenüber Ländern des globalen Südens zu stehen, die als erstes und am schlimmsten unter den Folgen der Klimakatastrophe leiden. Indem Hilfsgelder zusammengestrichen werden, laden wir uns weitere Schuld auf. Das können sich ein sozialdemokratischer Kanzler und ein grüner Energieminister nicht leisten. Entwicklungszusammenarbeit muss für uns auch elementarer Bestandteil der Zeitenwende sein.

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