Bundesgerichtshof Haften Ärzte für unnötig verlängertes Leben?

Karlsruhe · Muss ein Hausarzt Schadenersatz zahlen, weil er seinen Patienten über eine Magensonde am Leben erhalten hat? Wann ist das Leben zu unerträglich, um es zu erhalten? Über diese Fragen hat der Bundesgerichtshof beraten. Eine Analyse.

 Im Zweifel für oder gegen das Leben? (Symbolbild)

Im Zweifel für oder gegen das Leben? (Symbolbild)

Foto: epd

Ende Oktober 1939 ordnet Adolf Hitler offiziell die Ausrottung „unwerten Lebens“ an. Zu dieser Zeit töten die Nationalsozialisten längst systematisch etwa Kinder mit Behinderung. Sie sprechen zynisch vom „Gnadentod“. Sie sollen ja nicht leiden, sollte das heißen. Man muss sich diesen abscheulichen Teil deutscher Geschichte vergegenwärtigen, um es sich mit den nachfolgenden Fragen nicht zu leicht zu machen. Diese Fragen sind ethisch, religiös, juristisch, medizinisch – und in jedem Fall komplex.

Im Zweifel für oder gegen das Leben? Kann das Leben ein Schaden sein? Gibt es eine Pflicht zu leben? Oder eine Pflicht, jemanden sterben zu lassen? Wann ist das Leben zu unerträglich, um es zu erhalten? Und: Muss ein Arzt dafür haften, wenn er einen Patienten länger am Leben hält, als es unbedingt medizinisch angezeigt ist? Muss er gar Schadenersatz dafür zahlen? Der Bundesgerichtshof in Karlsruhe, das höchste deutsche Zivilgericht, hat sich am Dienstag mit eben jenen Fragen beschäftigt. Es ging dabei um das Leben von Heinrich Sening.

Bei Sening, 1929 geboren, diagnostizierten die Ärzte bereits im Alter von 68 Jahren Demenz. Von 1997 bis zu seinem Tod im November 2011 stand Heinrich Sening unter der Betreuung eines Münchner Rechtsanwalts; sein Sohn Heinz lebte zu dieser Zeit in den USA. 2006 zog Sening senior ins Pflegeheim, kurze Zeit später bekam er eine Magensonde, weil er kaum noch Flüssigkeit und Nahrung aufnahm. Diese Magensonde ernährte Heinrich Sening bis zu seinem Tod. Sohn Heinz findet: Diese Sonde ernährte seinen Vater zwei Jahre zu lang. Als Erbe verlangt er vom Hausarzt seines Vaters mindestens 100.000 Euro Schmerzensgeld wegen „fortgesetzter Körperverletzung“ und 52.000 Euro als Ersatz für die Pflegekosten.

Heinrich Sening hatte, was diesen Fall zusätzlich erschwert, keine Patientenverfügung. Er war acht Jahre vor seinem Tod kaum noch und drei Jahre davor gar nicht mehr zur Kommunikation fähig. Er konnte sich nicht mehr selbstständig fortbewegen, war gelähmt und bekam starke Schmerzmittel. Zwischen 2010 und seinem Tod Ende 2011 hing das Leben von Heinrich Sening von der Magensonde ab. Wäre sie entfernt worden, wäre er gestorben – verdurstet, wie sein Arzt sagt.

Sening konnte nicht mehr sagen, ob er diese Magensonde behalten wollte, er konnte nicht sagen, ob er leben wollte oder ob er den Tod als Erlösung herbeigesehnt hat. Nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch entscheidet in solch einem Fall – also keine Patientenverfügung, kein eigener Wille erkennbar – der Betreuer in Absprache mit dem Arzt, was im Interesse des Patienten wäre. Es hat aber weder eine Absprache noch eine Aufklärung durch den Arzt stattgefunden. So viel haben die vorherigen Instanzen, das Landgericht und das Oberlandesgericht München, unzweifelhaft festgestellt. Heinrich Senings Betreuer hatte 2006 der Magensonde zugestimmt, danach wurde nicht mehr darüber beraten. Der Sohn wurde nach eigener Aussage nie zu dieser Thematik befragt.

 Heinz Sening hat den Hausarzt seines Vaters verklagt.

Heinz Sening hat den Hausarzt seines Vaters verklagt.

Foto: dpa/Uli Deck

Es ist in diesem Fall offenkundig eine Menge schief gegangen, auch in der Kommunikation. Aber hatte der Hausarzt Senings tatsächlich die Pflicht, die Magensonde zu entfernen, also das Sterben, das zum normalen Verlauf des Lebens gehört, einzuleiten? Hätte er die Sonde entfernen müssen, um Heinrich Sening von seinem Leid zu erlösen?

Der Arzt meint, es sei einem Hausarzt nicht zuzumuten, eine künstliche Ernährung eigenmächtig abzubrechen. Selbst wenn es medizinisch vertretbar gewesen sein sollte, die Sonde zu entfernen, so der Hausarzt, sei daraus keine Pflicht abzuleiten. Nach seiner Ansicht hätte der Abbruch der Ernährung sogar eine verbotene aktive Sterbehilfe durch Verdursten bedeutet. Die Vorsitzende des Sechsten Zivilsenats des BGH, Vera von Pentz, zeigte sich gegenüber Schadenersatzpflichten des Arztes ebenfalls eher skeptisch. Ein Urteil wird erst in einigen Wochen erwartet.

Neben der Frage, ob der Arzt sowohl den Betreuer als auch den Sohn in den Entscheidungsprozess um das Abbrechen lebenserhaltender Maßnahmen hätte einbeziehen müssen, ist für den speziellen Fall von Bedeutung, ob die Magensonde „medizinisch indiziert“, also angebracht und erforderlich, war. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin schreibt dazu in einer Leitlinie: „Nicht indiziert ist Sondenernährung dagegen in finalen Krankheitsstadien einschließlich finalen Stadien der Demenz sowie zur Pflegeerleichterung oder Zeitersparnis.“

Wenn keine medizinische Notwendigkeit mehr für die Magensonde bestand, weil keine Genesung von Heinrich Sening mehr zu erwarten war, hätte die künstliche Ernährung wohl eingestellt werden müssen. Das ergibt sich auch aus den Grundsätzen der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung. Die Sonde ist im Fall von Heinrich Sening „ein widernatürlicher Eingriff in den normalen Verlauf des Lebens“ gewesen, wie das OLG München entschied.

Ob sich aber daraus eine Pflicht ergibt, qualvolles Leben, das nur noch an einer Sonde hängt, zu beenden, erscheint überaus zweifelhaft. Das Recht auf Leben ist in der deutschen Rechtsordnung von enormer Bedeutung. Das Leben einzuschränken, es gar zu beenden, greift in höchstpersönliche Rechte ein und bedarf tiefgehender Begründungen. Es gibt kein unwertes Leben, selbstverständlich nicht. Es gibt aber Leben, das unerträglich ist, weil das Leid ganz groß und die Hoffnung ganz klein geworden ist. In diesen Fällen sollten – wie die Gesetze es vorsehen – Ärzte und Betreuer im Sinne des Patienten entscheiden.

Wenn Ärzte ihrer Aufklärungspflicht nicht nachkommen, dann sind sie zu Schadenersatz verpflichtet. Das gilt auch für den Fall von Heinrich Sening. Aber man sollte die Ärzte nicht zum eigenständigen Abbrechen lebenserhaltender Maßnahmen zwingen. Das wird der Komplexität der Frage nicht gerecht. Ärzte könnten sich unter Druck gesetzt fühlen, sich im Zweifel häufiger gegen das Leben zu entscheiden. Das wäre menschenunwürdig.

(her)
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