Meldestellen legen Bericht vor Mehr als 250 antisemitische Vorfälle während des Gaza-Konfliktes

Berlin · Sie sind erst auf dem Weg zu einer flächendeckenden Erfassung des Antisemitismus in Deutschland, die Rias-Sammelstellen. Doch viele Zahlen aus ihrem Jahresbericht wirken bedrückend. Der Zentralrat der Juden nennt sie „furchtbar“.

 Polizisten stehen im Mai vor der Synagoge in Hagen.

Polizisten stehen im Mai vor der Synagoge in Hagen.

Foto: dpa/Jonas Güttler

Was die Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Rias) für das Jahr 2020 zusammenstellten, beruht auf der Grundlage von lediglich vier Landesverbänden, die um Meldungen aus dem übrigen Bundesgebiet ergänzt wurden. Doch die Steigerung von 1252 auf 1909 antisemitischer Vorfälle von 2019 auf 2020 bestätigt den bedrückenden Trend, der auch in der offiziellen polizeilichen Kriminalstatistik enthalten war. Und sie weist zugleich auf ein nach wie vor großes Dunkelfeld des Antisemitismus hin.

Dass im vergangenen Jahr 677 Personen in Deutschland antisemitisch beleidigt und verunglimpft worden seien, bezeichnete der Vizepräsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Abraham Lehrer, bei der Vorlage des Rias-Jahresberichtes in Berlin als „furchtbar“. Er rief die Bundesländer dazu auf, weitere Meldestellen zu unterstützen. Der Rias-Bundesverband zeigte sich zuversichtlich, dass im Verlauf des Jahres auch in NRW ein Ansprechpartner einbezogen werden könne. Bislang arbeiten Rias-Landesverbände in Berlin, Brandenburg, Bayern und Schleswig-Holstein zusammen.

Viele Jüdinnen und Juden scheuen inzwischen den Weg zur Polizei. Deshalb erscheint eine Ergänzung durch die nichtstaatlichen Meldestellen sinnvoll. Sie hatten im vergangenen Jahr mit dem Phänomen zu tun, dass in vielen Wochen und Monaten das öffentliche Leben ruhte, die Zahl der antisemitischen Straftaten gleichwohl zunahm. Der Protest gegen Corona-Maßnahmen habe geradezu eine „antisemitische Dynamik“ entfaltet, berichtete Rias-Bundesvorstand Benjamin Steinitz. Er analysierte eine „Normalisierung“ von Antisemitismus mit einer Grenzverschiebung, die nie wieder auf den Ursprungszustand zurückkehren werde.

Rias verzeichnete im vergangenen Jahr allein 284 Versammlungen, bei denen die Judenverfolgung verharmlost worden oder es zu anderen antisemitischen Aussagen gekommen sei - 33 davon allein in NRW. Der extremste Fall antisemitischer Gewalt wurde in Hamburg registriert, als ein jüdischer Student vor einer Synagoge mit einem Klappspaten angegriffen und schwer verletzt wurde.

Anders als die Polizeistatistik, die derzeit noch von nahezu ausschließlich rechtsextremistisch motivierte antisemitischen Straftaten ausgeht, legt Rias strenge Maßstäbe an die Vorfälle und kommt so zu dem Ergebnis, dass mangels eindeutiger Beweislage knapp über der Hälfte der Vorfälle nicht zugeordnet werden konnte. Rund ein Viertel entfiel danach auf das rechtsextreme Spektrum, gefolgt von Fällen mit verschwörungsideologischen Hintergründen.

Zwar zählte im eigentlichen Jahresbericht der israelbezogene Antisemitismus keine wesentliche Rolle. Das änderte sich jedoch massiv während des jüngsten Gaza-Konfliktes. Allein zwischen dem 9. und 24. Mai registrierten die Stellen mehr als 250 Vorfälle. Dazu zählten Bedrohungen und gezielte Sachbeschädigungen von jüdischen Einrichtungen. Vor diesem Hintergrund begrüßte Lehrer die Absicht der Innenministerkonferenz, Demonstrationen vor Synagogen künftig einzuschränken oder ganz zu verbieten.

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