Gastbeitrag Deutschland muss Europa führen

Düsseldorf · Weltpolitisch ist die Europäische Union im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten und China stark in die Defensive geraten. Das liegt an der strategischen Passivität der europäischen Führungsmacht Deutschland.

Geschichtliche Zäsuren kündigen sich oft durch neue Begriffe an. Die Bezeichnung "strategische Kultur" weist deshalb auf neue Entwicklungen hin. Die Karriere des Begriffs gewann politisch Fahrt durch die Sorbonne-Initiative des französischen Präsidenten Emmanuel Macron zur Umgestaltung der EU: Er forderte 2017 eine "europäische strategische Kultur".

Dies steht in der Tradition Frankreichs. In Paris gilt der Primat der Politik. Auch das EU-Recht untersteht dem politischen Willen, zusätzliche Potenziale zu nutzen. Ein Wahlkampfslogan lautete dort "Frankreich wird stärker durch Europa". Strategische Kultur, nicht nur zum Nutzen Frankreichs, sondern wie selbstverständlich auch zu dem Europas.

Was also ist strategische Kultur, wie kam es zur wachsenden Bedeutung dieses Begriffs? Anlass dazu ist der Aufstieg Chinas. Der Sicherheitsexperte Michael Paul von der Stiftung Wissenschaft und Politik hat auf der Suche nach Erklärungsmodellen auf chinesische Traditionen zurückgegriffen. Dessen neue strategische Kultur erweise sich als das "Reichsmodell einer wohlwollenden Führung Chinas", "als das Ergebnis konfuzianischer und realpolitischer Einflüsse" und der "Grundprinzipien von Sun Tsu", des großen chinesischen Militärstrategen aus dem sechsten Jahrhundert. Auf dieser Grundlage betreibe China seit 2012 "aktivistisch" Außenpolitik". Der Begriff ist ein Konstrukt und bezeichnet die Auswahl bewährter Elemente nationaler Kultur. Die neue strategische Kultur überwindet Fehlentwicklungen wie die "Kulturrevolution", ihre Schaffung ist ein bewusster Willensprozess.

Auch in Deutschland läuft eine Diskussion um eine Führungsrolle des Landes in Europa, auf die der Begriff der "strategischen Kultur" angewendet wird. Auf der einen Seite stehen die Anhänger einer europäischen Transfer- und Umverteilungsunion, die Deutschland als das eigentliche Problem Europas darstellen und sein Aufgehen in einem europäischen Zentralstaat fordern. Andererseits gibt es Warner, die einen schleichenden Abbau von Demokratie und Souveränität durch europäische Zentralisierung befürchten. Sie fordern Subsidiarität und Selbstverantwortung.

Macron und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker prägen mit ihren strategischen Initiativen die politische Agenda und haben die große Umverteilungsrunde um Geld und Macht in Europa eröffnet. Ein deutscher Alternativplan, ein "strategisches Gesamtkonzept", ist nicht zu erwarten. Die Stichworte der Debatte lauten Eurozonen-Haushalt, EU-Finanzminister, Europäischer Währungsfonds, alles in allem also Umverteilung statt Reform. Hier handelt es sich um alte französische Forderungen in neuer Verpackung. Die von Macron geforderte gemeinsame strategische Kultur in Europa wäre deshalb heute eine französisch dominierte strategische Kultur. Bringt Deutschland den Willen auf, eine eigene, europapolitisch kompatible strategische Kultur zu entwickeln, oder wird es Schritt für Schritt zurückweichen?

Nicht jede politische Kultur ermöglicht eine strategische Kultur. Deutschland hatte sie nie, allenfalls gab es eine Wiener Reichstradition und eine altpreußische strategische Kultur. Und so kommt zu den Prägungen aus der Zeit von Teilung und Kaltem Krieg noch die aus Kleinstaaterei und Provinzialismus geborene Tradition, die zum "verzerrten Wirklichkeitsbegriff der sozial entfremdeten Intellektuellen" führte, wie Joachim Fest einst bemerkte. Als Ergebnis kommt es zur "Zurückweisung der Wirklichkeit im Namen radikal idealisierter Vorstellungen" wie denen einer Weltregierung oder den Vereinigten Staaten von Europa. Das Ergebnis ist eine deutsche Strategievermeidungskultur, die nicht mehr das leisten kann, was heute erforderlich ist. Dies gilt nicht nur für die Wirtschaftsordnungspolitik der EU, sondern gerade auch für die Sicherheit Europas. Weder Frankreich noch die Europäische Union können einen Ersatz für den Nuklearschirm der USA bieten. Und da nukleare Entscheidungsgewalt prinzipiell auch nicht teilbar ist, bleibt das erste Grundgesetz deutscher Außenpolitik, nicht zwischen Paris und Washington zu wählen. Mit den Standbeinen Wirtschaft, Militär und "soft power", die für die kulturelle Prägung der Welt durch die USA steht, bleibt der atlantische Hegemon die Schutzmacht Europas. Das wird sich ändern, Zeit für ein Umdenken gibt es nicht unbegrenzt.

Deutschland und China trennen Unterschiede wie die Größe von Territorium und Bevölkerung, ganz zu schweigen von politischer Kultur oder Ideologie. Es verbinden sie aber einige Gemeinsamkeiten wie Mittellage und Wiederaufstieg. Und wie in China gibt es auch in Deutschland bewährte Traditionen, die der Wiederentdeckung harren. Dies gilt für Clausewitz, den militärstrategischen Denker und Erzieher, Bismarck, den internationalen Bündnispolitiker und Staatsmann als "ehrlichen Makler", oder Stresemann, den Mann des Ausgleichs mit Frankreich und überzeugten Vernunfteuropäer. Mit ihnen eröffnen sich realpolitische Wege zur Schaffung einer modernen deutschen strategischen Kultur, aufbauend auf bewährten, nicht negativen Traditionen.

Deutschland muss heute im Eigeninteresse am Aufbau einer modernisierten Leitidee für Europa maßgeblich mitwirken. In Abstimmung mit den kleineren europäischen Staaten in Ost und West, Nord und Süd, arbeitsteilig mit Frankreich. Daran, endlich seine Hausaufgaben zu machen, wird Deutschland ungestraft nicht mehr vorbeikommen.

Peter Seidel: Der Autor ist freier Publizist und arbeitete früher als Außenexperte bei der Bundestagsfraktion der Union.

(RP)
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