Der Fall "Gorch Fock"

Tausende Menschen empfangen den Dreimaster heute in Kiel; zahlreiche Boote laufen zur Begrüßung aus. Dabei war die Reise von einem tödlichen Unglück überschattet – und begleitet von heftiger Kritik.

Kiel Es ist eine Rückkehr ins Ungewisse: Wenn das Segelschulschiff der Deutschen Marine heute nach 23 800 Seemeilen (44 000 Kilometer) wieder im Heimathafen Kiel anlegt, wird es vorübergehend außer Dienst gestellt – "aus der Fahrbereitschaft genommen", wie es offiziell heißt. Ob jemals wieder Offizieranwärter an Bord der "Gorch Fock" ausgebildet werden, ist zurzeit noch unklar.

Der Grund: Die im August 2010 begonnene Auslandsausbildungsreise wurde vom tragischen Tod von Obermaat Sarah Lena Seele (25) aus Bodenwerder (Niedersachsen) überschattet. Die Soldatin war am 7. November 2010 im Hafen von Salvador de Bahia in Brasilien aus der Takelage gestürzt.

Das Unglück zog Kreise bis in die Bundespolitik. Von einer Meuterei der Offizieranwärter, die nach dem Todessturz schockiert nicht mehr aufentern wollten, war die Rede. Die Stammbesatzung, so behaupteten Kadetten, habe die jungen Soldatinnen sexuell belästigt und alle angehenden Offiziere schikaniert und zu Ekelritualen gezwungen. Außerdem hätten die Ausbilder am 11. 11. 2010 fröhlich den Auftakt der Karnevalszeit gefeiert.

Der damalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) suspendierte daraufhin den Kommandanten Norbert Schatz und ließ ihn zurück nach Deutschland fliegen – was weiteren heftigen Wirbel auslöste. Die Mannschaft solidarisierte sich offen mit ihrem Kapitän. Der 53-Jährige, an einen Schreibtisch im Marineamt Rostock versetzt, sei weiterhin offiziell der Kommandant des Schiffs, betont die Marineführung zur Beruhigung ihrer empörten Soldaten immer wieder.

Unterdessen sickerten Details aus dem noch geheimen Untersuchungsbericht der Marine durch. Demnach ist Kapitän zur See Schatz von den Vorwürfen entlastet. So habe es gar keine Karnevalsfeier gegeben: Ein einzelner Ausbilder habe sich nach Dienst offenbar aus Jux kurz eine rote Perücke aufgesetzt. Sicher ist jedenfalls, dass Schatz zum Zeitpunkt des Absturzes gar nicht an Bord war, sondern Urlaub hatte.

Wenige Monate zuvor war die Soldatin Jenny Böken (18) aus dem Kreis Heinsberg nachts unter ungeklärten Umständen über Bord gegangen und ertrunken – sechs Todesfälle soll es auf dem Schiff seit 1998 gegeben haben. Daraus leitete sich weitere Kritik ab: Ausbildung auf einem Windjammer sei im Computerzeitalter doch wohl fragwürdig. Auch müsse es inzwischen moderne Leinensicherungs-Systeme für das Aufentern geben.

Der Absturz der angeblich entkräfteten Sarah Lena Seele aus 27 Metern auf das hölzerne Deck löste auch eine heftige Diskussion um die Tauglichkeit junger Soldaten aus. Die tödlich Verunglückte sei zu korpulent gewesen, hieß es zunächst in einem offiziellen Papier – offenbar eine Falschmeldung. Die Leiche war zur Überführung nach Deutschland mit größeren Mengen Formaldehyd präpariert und wohl nach der Ankunft gewogen worden.

Was aber geschah wirklich an Bord der "Gorch Fock"? Die Ermittlungen ziehen sich. "Die Prüfung dauert an", sagte gestern Oberstaatsanwältin Birgit Hess unserer Zeitung. Die Staatsanwaltschaft Kiel ermittelt unter anderem wegen der Borddienstverwendungsfähigkeit der Offizieranwärterin. Mit einem Ergebnis sei voraussichtlich Ende Juni zu rechnen, sagte Hess. Weitere Erklärungen würden nicht abgegeben.

Ebenfalls für Juni hat Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) einen Abschlussbericht zu den Vorfällen auf dem Schulschiff angekündigt. Er soll dem Verteidigungsausschuss des Bundestages übergeben werden. Unterdessen formieren sich diejenigen, die den "weißen Schwan der Ostsee" als Repräsentantin Deutschlands weiter in Dienst halten wollen. Die Marine erwartet, dass heute zahlreiche Boote den Segler auf seiner letzten Etappe von Strande nach Kiel begleiten. Auch der schleswig-holsteinische FDP-Fraktionsvorsitzende Wolfgang Kubicki kündigte an, dem Schiff mit seinem eigenen Motorboot entgegenzufahren.

"Die ,Gorch Fock' ist für Kiel eine echte Herzenssache", sagte Kiels Oberbürgermeister Torsten Albig (SPD). Er begrüßt ebenfalls heute die Bark – mit Wasserfontänen. Begleitet vom gesamten Stadtrat will er auf einem Feuerlöschschiff neben der "Gorch Fock" herfahren.

Ein positives Signal setzte auch Thomas de Maizière. Denn er lobte in einer Grußbotschaft die Besatzung, sie habe "im Verlauf der Reise seemännische Herausforderungen angenommen, auf die sie zu Recht stolz sein kann". Daraus schließen Beobachter, dass die "Gorch Fock" spätestens im Juni wieder im Dienst sein wird: als Flaggschiff der traditionellen Windjammerparade zur "Kieler Woche".

Internet Fotos von der Ankunft unter www.rp-online.de/panorama

(RP)
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