Erdogan im Wahlkampf Der mächtige Mann der Türkei wirkt müde

Istanbul · In der Türkei werden am Sonntag der Präsident und das Parlament gewählt. Erdogan könnte noch mächtiger werden - oder die Aura des Unbesiegbaren verlieren.

Ein Bild aus der Ära von Recep Tayyip Erdogan ist besonders einprägsam: Es war während des Putschversuchs im Juli 2016, als sich der türkische Präsident per Smartphone zum Sender CNN Türk schalten ließ. Erdogan rief das Volk auf die Straßen, massenhaft folgten die Menschen dem Appell, der der Wendepunkt in dieser dramatischen Nacht war. Erdogan erschien ein weiteres Mal unbesiegbar.

Auch Wahlen hat Erdogan nicht verloren in den 16 Jahren, in denen er die Geschicke der Türkei bestimmt. Fast undenkbar schien vor kurzem noch, was nun Realität werden könnte: dass die Wahlen am Sonntag weder für ihn noch für seine AKP ein Durchmarsch werden.

Erdogan ist der mächtigste Politiker der Türkei seit Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk. Obwohl formell noch immer Ministerpräsident Binali Yildirim Regierungschef ist, ist jedem klar, wer das Land wirklich lenkt: natürlich Erdogan, den seine Anhänger „Reis“ nennen, Anführer. Unangefochtener Chef der AKP ist Erdogan außerdem, und seine Partei hat die absolute Mehrheit im Parlament.

Vom Bürgermeister zum Präsidenten

Auch wenn nicht alle in der Partei mit seiner Politik einverstanden sind, unter der seit dem Putschversuch Zehntausende Menschen ins Gefängnis gesperrt oder aus dem Staatsdienst entlassen wurden: Niemand in der AKP würde sich trauen, offen gegen Erdogan aufzubegehren.

Der aus einfachen Verhältnissen stammende Ausnahmepolitiker und vierfache Familienvater - der seinen Schwiegersohn zum Energieminister gemacht hat - hat eine steile Karriere hingelegt. Politische Meriten verdiente er sich von 1994 an als Bürgermeister seiner Heimatstadt Istanbul. Drei Mal war er später Ministerpräsident. Weil er das Amt nach den AKP-Statuten kein viertes Mal hätte übernehmen können, ließ er sich 2014 zum Präsidenten wählen.

In den vergangenen Jahren hat Erdogan das Land zutiefst gespalten. Seine Anhänger verehren ihn, seine Gegner lehnen ihn aus ganzem Herzen ab und werfen ihm vor, eine „Ein-Mann-Herrschaft“ etablieren zu wollen. Wenn es nach Erdogan geht, würde seine Macht bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am Sonntag tatsächlich noch einmal kräftig ausgebaut.

Dann ist die Einführung des Präsidialsystems in der Türkei abgeschlossen, das Erdogan seit Jahren anstrebt - und dessen Einführung er nach dem Putschversuch vehement vorantrieb. Der Plan dahinter war natürlich stets, dass er selber an der Spitze dieses Systems steht, in dem der Präsident zugleich Staats- und Regierungschef ist.

Der türkische Präsident wirkt müde und ausgelaugt

Allerdings läuft aus Erdogans Sicht derzeit nicht alles nach Plan. Der Kandidat der größten Oppositionspartei CHP, Muharrem Ince, ist spritzig und schlagfertig, er hat frischen Wind in die seit 2002 von der AKP dominierte Politik gebracht. Verglichen mit früheren Zeiten wirkt Erdogan ausgelaugt und müde, sein Wahlkampf ist ideenlos. Vor Wochen hieß es aus der AKP, Erdogan werde schon noch einen echten Knaller aus dem Hut zaubern, der die Wähler mobilisiert. Kurz vor der Wahl ist davon immer noch nichts zu sehen.

Stattdessen wiederholt der 64-Jährige gebetsmühlenartig, was von seinen Regierungen alles geschaffen wurde. Im Westen verblassen die Erfolge Erdogans häufig in der Diskussion um seinen politischen Führungsstil. Dabei hat er die Türkei auch positiv verändert, vor allem im wirtschaftlichen Bereich. Im ersten Erdogan-Jahrzehnt verdreifachte sich das statistische Pro-Kopf-Einkommen. Aus dem „kranken Mann am Bosporus“ wurde ein aufstrebendes Land. Die Infrastruktur in der Türkei ist häufig besser als die in Deutschland.

Jetzt kriselt die Wirtschaft allerdings, und auch wenn Erdogan seinen Zuhörern im Wahlkampf „Ich liebe Euch sehr“ zuruft, dann können sich die Wähler von dieser Liebe doch nichts kaufen. Für ihre Lira bekommen sie gleichzeitig immer weniger: Die Inflation ist auf mehr als 12 Prozent gestiegen, seit Jahresbeginn hat die heimische Währung gegenüber dem Dollar 20 Prozent an Wert eingebüßt.

Erdogan reagierte, wie er meist reagiert, und machte ominöse Mächte im Westen verantwortlich, nicht etwa seine Politik. Seit langem ist sein Rezept, sich als Bollwerk zu präsentieren, das die Türkei gegen dunkle Mächte im In- und Ausland verteidigt. Die Botschaft dahinter: Nur er kann die Türkei schützen, nur mit ihm gibt es Stabilität.

Erdogan will dem Westen „eine Lektion erteilen“

Der türkische Präsident hat eine dramatische Wandlung hingelegt. 2004 wurde er noch zum „Europäer des Jahres“ gekürt worden. Aber in den vergangenen Jahren hat er die Islamisierung der Türkei vorangetrieben. Sein Verhältnis zu Deutschland, zur EU und zu den USA ist angespannt, um es vorsichtig zu formulieren. Dafür nennt er Kremlchef Wladimir Putin seinen „Freund“ und präsentiert sich bei Konflikten mit Israel als Anführer der muslimischen Welt.

„Den Westen“ verdächtigt Erdogan dagegen, bei der Wahl am Sonntag darauf zu setzen, dass er entmachtet werde. „Der Westen blickt auf den 24. Juni“, rief Erdogan kürzlich. „Sind wir bereit, dem Westen die nötige Lektion zu erteilen?“ Umfragen zufolge kann er darauf bei der Präsidentschaftswahl am Sonntag nicht bauen, zumindest nicht in Form einer absoluten Mehrheit im ersten Wahlgang. Dann müsste er am 8. Juli in die Stichwahl, wahrscheinlich gegen Ince. Erdogan wäre immer noch Favorit, sein Nimbus der Unbesiegbarkeit wäre aber angekratzt. Womöglich wäre es der Anfang vom Ende seiner Ära.

Auch seine AKP muss bangen: Schafft die pro-kurdische HDP es über die Zehn-Prozent-Hürde, könnte Erdogans Partei die absolute Mehrheit im Parlament verlieren. Das Parlament ist im neuen System zwar weniger mächtig, aber immer noch mächtig genug, um dem Präsidenten das Leben schwer zu machen. Als die AKP bei der Parlamentswahl im Juni 2015 die absolute Mehrheit verlor, ließ Erdogan wenige Monate später einfach erneut wählen, dann waren die alten Verhältnisse wieder hergestellt.

Möglicherweise wäre das aus Erdogans Sicht auch dieses Mal eine Möglichkeit, wenn auch eine riskante. Der Chef der mit der AKP verbündeten ultranationalistischen MHP, Devlet Bahceli, sagte, wenn der Präsident und das Parlament nicht zusammenarbeiten könnten, dann böte das neue System Auswege. „Zum Beispiel kann eine Seite Neuwahlen erwägen.“ Das stimmt, der Präsident kann das Parlament auflösen. Allerdings müsste er sich dann auch selber erneut zur Wahl stellen. Und ob die wahlmüden Türken tatsächlich so lange abstimmen würden, bis Erdogan das Ergebnis passt, ist nicht gesichert.

(wer/dpa)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort