Analyse Erdogans Türkei verstehen

Seit 15 Jahren dominiert Recep Tayyip Erdogan die türkische Politik. Wer den Grund seines Erfolgs begreifen möchte, sollte sich näher mit der Geschichte einer in sich zerrissenen Nation beschäftigen.

Gegenwart und Vergangenheit der Türkei vereint. Erdogan sitzt vor einem Porträt Atatürks.

Gegenwart und Vergangenheit der Türkei vereint. Erdogan sitzt vor einem Porträt Atatürks.

Foto: dpa / Kayhan Ozer

Die Wirtschaftslage ist schlecht, elementare Grundrechte der Bürger werden eingeschränkt, und das Land ist tief gespalten. Die Situation in der Türkei ist besorgniserregend. Wenn am Sonntag gleichzeitig die Parlaments- und die Präsidentschaftswahl stattfinden, geht es für den amtierenden Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan um alles. Dass seine Chancen auf eine Wiederwahl dennoch nicht schlecht sind, ergibt sich aus der Geschichte der Türkei. Erdogans Macht erklärt sich nicht nur aus seinen eigenen Leistungen, sondern auch aus den Erfahrungen einer gesamten Nation. Es ist richtig, Erdogan hart zu kritisieren. Geschieht dies aber aus den falschen Gründen, stärkt das seine Opferrolle und schwächt die Demokratie vor Ort. Daher ist es wichtig, die Türken zu verstehen. Schon vier Punkte helfen dabei.

Stabilität

In der Geschichte der Türkei gelang es nur wenigen Ministerpräsidenten, eine Legislaturperiode ohne Abwahl, Putsch oder Verhaftung zu überstehen. Vier Mal putschte sich das Militär an die Macht, es folgten Parteiverbote und Verhaftungswellen. In der Türkei entstand so das geflügelte Wort, dass erst ein Aufenthalt hinter Gittern politische Karrieren ermöglicht. Auch Erdogan wurde nach dem Militär­putsch von 1997 verurteilt, verbrachte vier Monate im Gefängnis und erhielt ein lebenslanges Politikverbot. Als er 2002 mit seiner Partei AKP überraschend die Parlamentswahl gewann, konnte er daher sein Mandat zunächst nicht annehmen. Erst nach einer Gesetzesänderung konnte er sich zum Ministerpräsidenten wählen lassen und dominiert seitdem die türkische Politik, so lange wie kein anderer vor ihm.

Seine Macht sicherten vor allem die sogenannten schwarzen Türken, die fromme Bevölkerung Anatoliens. Sie stehen im Gegensatz zur westlich geprägten Elite der „weißen Türken“. Erdogan bezeichnete sich selbst als schwarzen Türken. Er drängte die Macht des säkularen Militärs zurück und steht spätestens seit dem überstandenen Putschversuch 2016 für eine Stabilität, wie sie die Türken lange herbeigesehnt haben. Sie legitimiert Erdogans Handlungen, auch diejenigen, die unpopulär sind.

Verschwörungstheorien

Viele Türken verknüpfen die Instabilität traditionell mit dem sogenannten tiefen Staat. Dieses angebliche Geflecht aus Militär, Politik und organisiertem Verbrechen wird für politische Morde und Putschversuche verantwortlich gemacht. Ursprung hat diese Vorstellung in der Geschichte der Türkei. Als der heute noch verehrte Mustafa Kemal „Atatürk“ 1923 die Türkei gründete, reformierte er das Land radikal, führte eine strikte Trennung von Religion und Staat ein. Militär und Geheimdienst sahen sich seitdem als Hüter dieses „Kemalismus“ und gingen mit großer Härte gegen mutmaßliche Bedrohungen vor.

Erdogan machte sich dies später selbst zunutze. Mehrfach wurde oppositionellen Kräften wegen Umsturzplanungen der Prozess gemacht. Die Beweislage war meist dürftig. Der Glaube an Verschwörungen hilft ihm auch bei den Verhaftungswellen seit dem missglückten Putschversuch vor zwei Jahren. Alleine der Vorwurf, ein Anhänger des Predigers Fethullah Gülen zu sein, dem einstigen Weggefährten Erdogans, kann in der Türkei zu Jobverlust und Haftstrafe führen. Dabei ist noch nicht einmal Gülens Verantwortung für den Putsch bewiesen. Doch auch das sind die Türken gewohnt. Zahlreiche Attentate und Morde wurden nie aufgeklärt, was neue Verschwörungstheorien nährt.

Türkei-EU-Beziehungen

In einem anderen Fall benötigt Erdogan gar keine Verschwörungstheorien. Beim unendlichen Versuch der Türkei, Mitglied der Europäischen Union zu werden, flog ihm die Opferrolle einfach zu. Bereits 1959 bewarb sich die Türkei erstmals um die Mitgliedschaft in der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Seitdem gesellten sich 22 Staaten zu den sechs EWG-Gründungsmitgliedern, die Türkei kam jedoch nie auch nur in die Nähe der EU.

Dies hat zum Teil mit der Türkei selbst zu tun – mit ihrer Haltung in der Zypern-Frage und ihren innenpolitischen Problemen. Spätestens seitdem unter Erdogan umfassende Zivilrechtsreformen umgesetzt wurden und die Türkei der EU in vielen essenziellen Fragen weit entgegenkam, traten weitere Bedenken hervor. Als 2005 Beitrittsverhandlungen aufgenommen wurden, hieß es: Auch wenn die Türkei alle Kriterien erfülle, solle geprüft werden, ob die EU die Aufnahme wirtschaftlich und politisch verkraften kann. Der wahre Grund dieser Hürde: die Sonderrolle der Türkei als islamisch geprägtes Land. Ob man die Bedenken teilt oder nicht, sie nutzten Erdogan für seine Behauptung, Europa wolle die Türken gar nicht.

Nationalismus

Ob links oder rechts, die Parteien der Türkei vertreten einen mehr oder weniger starken Nationalismus, der schon in der Gründungsideologie des Kemalismus verankert ist. Wenn das „Türkentum“ bedroht ist, steht die türkische Gesellschaft zusammen. Eine wirkliche Aufarbeitung negativer Aspekte der eigenen Geschichte findet nicht statt. Allein die Erwähnung des Völkermords an den Armeniern vor über 100 Jahren wird als Bedrohung für die Nation angesehen. Zu erkennen ist dies auch im Konflikt mit den Kurden, der größten ethnischen Minderheit in der Türkei. Sie konnten ihre Kultur nie frei ausleben, wurden unter Druck assimiliert und nicht als eigenständige Volksgruppe anerkannt. Der Konflikt mit der kurdischen Untergrundorganisation PKK mobilisierte immer wieder die Nationalgefühle der Wählerschaft. Erdogan nutzte dies in Zeiten schlechter Umfragewerte. Der Nationalismus half ihm auch nach dem Putschversuch, um sogar Oppositionsparteien wie die CHP auf seine Seite zu ziehen. Scheint die Nation bedroht, rückt die Demokratie in den Hintergrund.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort