Speaker John Bercow Der Widerspenstigen-Zähmer

London · John Bercow ist Speaker im britischen Unterhaus. Während der Brexit-Debatte ist er durch seine knorrigen „Order“-Rufe weltweit berühmt geworden. Doch wer ist der Mann, der bereit ist, mit Traditionen zu brechen?

  Parlamentspräsident John Bercow (r.) wird von Abgeordneten bedrängt.

Parlamentspräsident John Bercow (r.) wird von Abgeordneten bedrängt.

Foto: dpa/Mark Duffy

Wenn er wegen seiner Kleinwüchsigkeit gehänselt wird, kann er nachtragend sein. Als der Abgeordnete Simon Burns den Parlamentspräsidenten des britischen Unterhauses vor einigen Jahren als einen „bescheuerten, scheinheiligen Zwerg“ bezeichnete, handelte er sich die lebenslange Feindschaft des 168 Zentimeter großen John Bercow ein. Jetzt kommt der kleine Mann ganz groß heraus. „Radio France Internationale“ hat ihn soeben zum „Europäer der Woche“ ernannt, und die „Tagesschau“ stellte ein Video von ihm ins Netz, das sich zunehmender Beliebtheit erfreut, weil Bercow darauf so selbstverliebt wie sonor seine Rufe „Order! Order!“ bellt und brüllt. Es war die Woche des John Bercow.

Der erste jüdische „Speaker“ des Unterhauses, der am Samstag seinen 56. Geburtstag feiert, hat aber nicht nur Bedeutung wegen seiner zeremoniellen Rolle – oder weil er die skurrilen Traditionen des Hauses verkörpert. Der Mann hat wirkliche Macht, weil er der ultimative Schiedsrichter im Parlament ist. John Bercow erteilt das Wort, legt Redezeiten fest, wählt Änderungsanträge aus und ändert auch schon einmal, wenn er es für nötig hält, das Reglement.

So geschehen in der Brexit-Debatte am Dienstag, als er zuließ, dass der Hinterbänkler Dominic Grieve einen Regierungsantrag zur Geschäftsordnung mit einem „Amendment“, einem Änderungsantrag, versehen durfte. Dieser Antrag verpflichtete die Premierministerin Theresa May, innerhalb von drei Sitzungstagen ihren Plan B vorzustellen. Normaler Weise sind derartige Regierungsanträge unabänderlich. Als ihm erboste Torys vorhielten, dass es dafür keinerlei Präzedenzfälle gäbe, sagte John Bercow: „Wenn wir uns immer nur an die Tradition halten, kann es keine Veränderung geben.“

Dabei ist Bercow selber Tory und wurde schon in jungen Jahren Mitglied der konservativen Partei. Der Sohn eines rumänischstämmigen Taxifahrers arbeitete sich nach oben, arbeitete zunächst im Bank- und dann im Lobby-Gewerbe, bevor er 1997 als Abgeordneter ins Unterhaus einzog. Politisch bewegte er sich von ganz rechts außen – als Studentenführer unterstützte er die Rückholung von Immigranten – bis nach Mitte-links. Seine Reise wurde 2002 sicherlich gefördert, als Bercow die Labour-Aktivistin Sally Illman heiratete. Als er 2009 zum Speaker gewählt wurde, gelobte Bercow, die Rechte der Legislative gegenüber der Exekutive zu stärken. Seine Kollegen in der konservativen Partei legten das schnell so aus, dass er die Labour-Opposition gegenüber der Tory-Regierung bevorzugen würde.

Tatsächlich geht es Bercow aber um die Balance der Macht. Und wenn er denkt, dass sie allzusehr zugunsten der Regierung ausfällt, greift er ein. Bei der Brexit-Debatte wird er eine entscheidende Rolle spielen. Er hat beim Grieve-Änderungsantrag schon demonstriert, dass er zu selbstzerstörerischen Schritten bereit ist. Jetzt steht eine weitere Revolution an. Eine parteiübergreifende Gruppe von Abgeordneten will Anfang nächster Woche die Geschäftsordnung des Parlaments ändern und das Primat der Regierung einschränken, Gesetze einzubringen zu dürfen. Hinterbänkler würden die Tagesordnung kontrollieren und könnten selbst Gesetze vorschlagen, womit ein Weg gefunden wäre, einen „No Deal“ zu verhindern und womöglich ein zweites Referendum auf den Weg zu bringen.

Der Speaker hat schon signalisiert, dass er bereit wäre, so einen Antrag zuzulassen. Wenn das Haus dafür stimmt, hätte es ironischerweise eine Hauptforderung der Brexit-Befürworter – obwohl diese Zeter und Mordio schreien würden – erfüllt: die Kontrolle zurückzugewinnen. Es stünde dann nicht mehr im Belieben Theresa Mays, wie das Brexit-Drama ausgehen wird. Downing Street hat zu verstehen gegeben, dass man ebenfalls mit der Tradition brechen werde und John Bercow, wenn er im Sommer diesen Jahres wie angekündigt zurücktritt, nicht in den Adelsstand erheben will.

(witt)
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