Interview mit Lehrern Tina Liehr und Olaf Peim „Es ist die Chance, Schule neu zu denken“

Sonsbeck/Issum · In Sonsbeck soll 2020 eine Bürgerschule an den Start gehen. Den nötigen Gründungsprozess haben Monika Liehr und Olaf Peim vor drei Jahren in Issum-Sevelen bereits erfolgreich hinter sich gebracht. Beide kennen die Probleme, aber auch großen Chancen, die sich bieten.

 Tina Liehr und Olaf Peim leiten in Sevelen die Gesamtschule Facettenreich.

Tina Liehr und Olaf Peim leiten in Sevelen die Gesamtschule Facettenreich.

Foto: Norbert Prümen (nop)

Tina Liehr (40) und Olaf Peim (48) hatten es satt. Als Lehrer an der Europaschule Rheinberg hatten sie eigentlich klare Vorstellungen davon, wie Pädagogik in der heutigen Zeit aussehen sollte. Aber sie fühlten sich gefangen im staatlichen Bildungssystem, zu eingeengt in ihrer Kreativität. Also beschritten sie neue Wege und gründeten in Issum-Sevelen die Freie Gesamtschule „Facettenreich“ als staatlich anerkannte Ersatzschule.

Eine ähnliche Situation bietet sich aktuell Sonsbecker Bürgern. Weil die dortige Gesamtschule im Jahr 2020 schließt, wollen sie eine Bürgerschule ins Leben rufen. Liehr und Peim verraten im RP-Gespräch, worauf im Gründungsprozess geachtet werden muss. Aber auch, welche Chancen sich in Sonsbeck bieten.

Vor drei Jahren starteten Sie mit Ihrer Gesamtschule in Sevelen. Wie hat sich die Situation inzwischen entwickelt?

Olaf Peim Wir führen in den kommenden Wochen 108 Anmeldegespräche für 32 Schüler, die wir für das Schuljahr 2019/20 aufnehmen können. So einen großen Andrang gab es in den ersten Jahren zwar nicht. Aber die Eltern vom Konzept zu überzeugen, hatte immer oberste Priorität. Die schauen natürlich kritisch auf eine neue Schule. Aber man merkt: Viele Eltern wollen etwas anderes als das normale, staatliche System. Und das bieten wir.

Inwiefern?

Tina Liehr Unser Grundsatz lautet: „Ein guter Schulabschluss ist uns zu wenig.“ Wenn man so viel Lebenszeit an einem Ort verbringt, muss da mehr bei rumkommen als das, was man laut Prüfungsordnung am Ende der zehnten Klasse in Abschlussprüfungen unter Beweis stellen muss. Wenn ich irgendwann möchte, dass Menschen innerhalb unserer Gesellschaft Verantwortung übernehmen und sich für die Demokratie stark machen, dann müssen sie das auch irgendwo gelernt haben.

Peim Unsere Schüler kommen beispielsweise zweimal täglich im sogenannten „Kreis“ zusammen und besprechen dort alles, was sie für ein gutes Beisammensein und für gutes Lernen wichtig halten. Dort beschließen sie auch eigene Regeln.

Sie waren vorher beide im öffentlichen Schuldienst beschäftigt. Was hat Sie bewogen, andere Wege zu beschreiten?

Liehr Es gibt für uns beide pädagogische Grundpfeiler, über die wir niemals mehr mit einem erwachsenen Menschen diskutieren wollen. Wir haben uns zuvor in 15 Jahren Schuldienst aufgerieben an Erwachsenen, mit denen wir darüber diskutiert haben, wie Lernen funktioniert, was Kinder dürfen, was Kinder sind. Da lässt man so viele Federn, und es kommt bei den Kindern nichts davon an.

Wie versuchen Sie denn, diese Diskussionen zu vermeiden?

Peim Indem wir den Eltern vorab in einer ausführlichen Infoveranstaltung klar machen, worum es uns geht. Wenn sie danach sagen, dass sie sich vorstellen können, mit uns für mindestens sechs Jahre zusammenzuarbeiten, dann vereinbaren wir ein einstündiges Anmeldegespräch mit Kind. Und da fühlen wir dann noch einmal auf den Zahn. Ist es wirklich so, dass ihr euer Kind hier anmelden möchtet, weil ihr vom Konzept überzeugt seid? Oder nur, weil das Kind einen kurzen Schulweg hat?

Wenn man die Zahlen betrachtet, scheint das auf großes Interesse zu stoßen. Warum nehmen Sie dennoch nur 32 neue Schüler pro Schuljahr an?

Liehr Wir sehen darin einen großen pädagogischen Vorteil und Nutzen für uns alle, auch was eine eigene Befriedigung angeht. Wenn ich die Kinder in einer großen Schule nicht mal mit Namen kenne, wie will ich sie denn auf ihrem Lernweg fördern? Wir wollen keine Lernfabrik werden, sondern eine familiäre Schule bleiben. Es ist ab einer gewissen Schulgröße einfach zu schwer, pädagogisch gemeinsam in eine Richtung zu blicken. Abgesehen davon lässt unser Schulgebäude es nicht zu, mehr Kinder aufzunehmen.

Derzeit gibt es in Sonsbeck Menschen, die als Bürgerverein einen ähnlichen Weg wie Sie beschreiten wollen – wenn auch aus anderen Motiven. Gibt es Dinge, die Ihrer Meinung nach unbedingt beachtet werden sollten?

Liehr Wenn man sich in Sonsbeck jetzt auf den Weg macht und eine Schule gründet, sollte man sich vorher klar machen: Was ist unser Ziel? Wo wollen wir hin und wie wollen wir das erreichen? Das erleichtert allen den Weg, die dort arbeiten wollen, den Eltern, den Schülern und auch den Lernbegleitern. Es muss klar sein, was die neu zu gründende Schule massiv von anderen unterscheidet.

Die inhaltliche Komponente ist die eine Seite. Was muss denn organisatorisch beachtet werden, wo lauern Fallstricke im Gründungsprozess?

Peim Erstens: Es muss einen Antrag geben. Zweitens: Es muss ein Gebäude vorhanden sein, zu dem ein Raumkonzept erstellt werden muss. Je nachdem, was für eine Schulform dann gegründet werden soll, wird das Raumkonzept von der Bezirksregierung entsprechend geprüft. Und drittens: Man muss einen Finanzierungsplan haben, der das gesamte Konzept bis zum Endausbau sichert.

Und wie sieht es in Sachen Personalplanung aus?

Peim Das ist dann natürlich die vierte Säule. Wobei man klar sagen muss, dass die Personalplanung schon etwas schwieriger ist. Die ersten drei Säulen kann man als Bürgerverein in einem Ort, wo es schon ein entsprechendes Schulgebäude gibt, sicherlich stemmen. Tatsächlich ist es bei vielen zu gründenden Ersatzschulen so, dass es oft einfach an Personal fehlt. Und sich darum häufig auch erst zuletzt gekümmert wird. Dabei sollte das der erste Schritt vor allen anderen sein, ansonsten kann es daran durchaus scheitern. Denn man muss ganz klar sagen: Auf lange Sicht kommt kein Lehrer an eine Ersatzschule, um nur einmal hineinzuschnuppern. Wer das staatliche System verlässt, der kommt, um zu bleiben. Den Kollegen muss klar sein, dass sie irgendwann keine Landesbeamten mehr sein können. Und das ist für viele Lehrer natürlich ein großer Schritt. Auch wenn es die Möglichkeit gibt, sich zunächst für bis zu fünf Jahre vom Landesdienst beurlauben zu lassen. Letztlich kann man als Richtwert nennen, dass mindestens ein halbes Jahr vor dem Start ins erste Schuljahr alle Personalentscheidungen getroffen sein müssen. Sonst wird es nichts.

Zumal es ja zunächst eine Schulleitungspersönlichkeit braucht. Wie haben Sie diesen Punkt in Sevelen gemeistert?

Liehr Unser großer Vorteil war, dass die Gründungsinitiative von den beiden Personen ausging, die bereits eine Schulleitungsqualifikation hatten – nämlich von uns beiden. Wir haben also nie vorab eine Schulleitung suchen müssen.

Klingt nach jeder Menge Vorarbeit, die zu leisten ist.

Peim Und jetzt kommen wir zu dem verbindenden Punkt: Wenn man es tatsächlich geschafft hat, alle vier Säulen auf die Beine zu stellen und eine Privat- oder Bürgerschule zu gründen, muss man ja immer noch Kinder haben, die diese Schule besuchen. Gerade die Familien in Issum und Sevelen waren in den ersten Jahren sehr skeptisch und haben kaum Kinder bei uns angemeldet. Ein großer Teil unserer Schüler kommt aus anderen Städten und Gemeinden in der Umgebung. Erst jetzt, wo es ins vierte Jahr geht und wir uns als Ersatzschule etabliert haben, möchten Eltern ihre Kinder bei uns anmelden, die in den ersten Jahren die älteren Kinder noch an andere Schulen schickten.

Wie lautet also Ihre Prognose für die Bestrebungen, in Sonsbeck eine Bürgerschule gründen zu wollen?

Peim Man kann festhalten: Das „Was“, also Organisation und rechtliche Vorgaben, Lehrpläne und Abschlüsse, ist dasselbe wie für eine öffentliche Schule. Aber das „Wie“, also die inhaltliche Komponente, sollte sich unterscheiden, nur dadurch kann die Schule Profil ausbilden, das sich klar unterscheidet und das auf die Wünsche und die Bedürfnisse der Kinder und Eltern eingeht.
Liehr Aber darin liegt auch die große Chance. Als Schule, die sich ja quasi erfindet, hat man alle Möglichkeiten, das „Wie“ anders zu gestalten. Man hat die Chance, Schule neu zu denken – unter Einhaltung aller rechtlichen Vorgaben. Wenn man den Mut aufbringt, alte Strukturen zu verlassen, kann man Dinge von unten verändern. Darin liegt ein großes Geschenk. Und wenn man sich ordentlich organisiert, ist so ein Gründungsprozess auch in eineinhalb Jahren zu stemmen.

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