Prozess um Kindstod in Solingen Angeklagter weint – Verhandlung mehrmals unterbrochen

Solingen / Wuppertal · Im Kindstod-Prozess berichtete eine Tante über die Jugendzeit des Angeklagten. Die Erinnerungen zeigen bei ihm heftige Auswirkungen.

Im Prozess um die schwere Misshandlung eines zweijährigen Kindes geht es darum, wer dessen Tod zu verantworten hat. Wegen fehlender Fürsorgepflicht auf der Anklagebank: Die Mutter (25) des Mädchens. Und deren Freund (18), der wegen Mordes angeklagt ist.

Dessen Tante war es nun, die am mittlerweile siebten Verhandlungstag im Zeugenstand die zutiefst traurige Geschichte ihres Neffen erzählt hat. Sie ist es wert, das man sie anhört. Hier gab es vieles, das man keinem Kind wünscht. Die Eltern geschieden, als der Angeklagte vier Jahre alt war. Der Junge kommt sofort ins Heim, die kleine Schwester durfte bei der Mutter bleiben. Die wiederum verschwindet und ist wieder da, um endgültig zu verschwinden. Die Vormundschaft hat das Jugendamt, der Vater besucht seinen Sohn alle zwei Wochen. Er wird vor Gericht sagen, dass er ihm kein Vater habe sein dürfen.

„Er kam von einem Heim ins nächste“, erzählte die Tante des Angeklagten. Zwischendurch habe er sogar in einer Einrichtung für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung gelebt. Von dort habe sie ihn an den Wochenenden zu sich nach Hause geholt. Immer wieder sei er weggelaufen aus den Einrichtungen, in denen ihn das Jugendamt untergebracht hatte. „Er wollte dort nicht bleiben“, sagt die Tante. Dennoch sei die Odyssee immer weiter gegangen.

Derweilen soll es unzählige Gespräche beim Jugendamt gegeben haben. Sie habe ihren Neffen zu sich holen wollen, man habe das abgelehnt. „Er hat irgendwann aufgegeben und mir nicht mehr vertraut“, so die Zeugin. Nach einer Jugendstrafe habe sie ihn dann doch für mehrere Monate zu sich geholt. In eine Drei-Zimmer-Wohnung, in der sie mit ihrem Lebenspartner und der gemeinsamen Tochter wohnte. Um ihn nicht auf der Couch schlafen zu lassen, habe die Tochter ihr Zimmer geräumt und mit den Eltern im Bett geschlafen.

Und wieder sei die Odyssee von Amt zu Amt losgegangen. Beim Jobcenter habe man nicht zahlen wollen, weil der Angeklagte als geistig behindert und arbeitsunfähig eingestuft worden sei. „Ich wollte vom Jugendamt wissen, wer die Behinderung überhaupt festgestellt hat“, so die Zeugin. Niemand habe ihr dazu etwas sagen können – stattdessen habe das Amt es abgelehnt, ihr Zuschüsse für den Unterhalt des Neffen zu bewilligen. Die Tochter habe ihr Zimmer zurückhaben wollen, ihr Neffe habe sich überflüssig gefühlt: „Uns ging es allen nicht mehr gut“, erzählt die 31-Jährige von ihrer Verzweiflung. Dann sei er im vergangenen Herbst plötzlich weg gewesen, der Kontakt sei abgebrochen. Später habe sie über Bekannte von der Beziehung ihres Neffen zur Mutter des zweijährigen Mädchens erfahren.

Der junge Mann saß derweilen, an den Füßen gefesselt und weinend auf der Anklagebank. Zwischendurch musste die Verhandlung unterbrochen werden, weil er es war, der die Erinnerungen an seine Kindheit nicht mehr aushielt. Bevor er aus dem Saal geführt wurde, rief er seiner Freundin zu: „Sag doch endlich die Wahrheit“.

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