Familientherapeutin aus dem Rhein-Kreis Neuss So erleben Kinder die Corona-Krise

Interview | Rhein-Kreis · Die Corona-Pandemie ist eine große Belastung für Familien. Familientherapeutin Daniela Flammer spricht darüber, wie Kinder die aktuelle Situation wahrnehmen. Sicherheit gebe das Verhalten der Eltern.

 Therapeutin Daniela Flammer meint, dass Familien auch gestärkt aus der Corona-Krise gehen können.

Therapeutin Daniela Flammer meint, dass Familien auch gestärkt aus der Corona-Krise gehen können.

Foto: Andreas Woitschützke

Frau Flammer, die Corona-Pandemie ist für alle eine große Herausforderung. Meist wird von den Eltern gesprochen und die Frage gestellt, wie sie Job und Familie unter einen Hut bekommen. Doch wie nehmen Ihrer Erfahrung nach Kinder diese besondere Situation wahr?

Daniela Flammer Das hängt in hohem Maß davon ab, wie Eltern mit dieser Situation umgehen. Grundsätzlich sind Kinder sehr flexibel und können sich, wenn sie sich sicher fühlen, auf eine Vielzahl von äußeren Rahmenbedingungen einstellen. Gleichzeitig sind altbekannte Rituale und Strukturen wichtige äußere Faktoren, die zum Sicherheitsempfinden von Kindern beitragen. Kinder vermissen ihren Alltag, sei es der Kindergartenbesuch, der Sport, das Treffen mit Freunden. Gleichzeitig erleben und beobachten sie, dass auch ihre Eltern keine sicheren Antworten geben können und im Alltag (der ja gar keiner mehr ist) häufig überfordert sind. Gerade in der momentanen Situation sind Kinder jedoch ausschließlich auf ihre Eltern als Modell angewiesen. Das heißt, wenn wir über die Wahrnehmung und Erfahrung der Kinder sprechen, müssen wir unbedingt die Wahrnehmung der Eltern ins Visier nehmen. Und da klafft die Schere an Ressourcen leider stark auseinander, so dass wir davon ausgehen müssen, dass sich Sozialisationsunterschiede während der Corona-Krise weiter verstärken. Bedeutet: Kinder aus ressourcenstarken Familien nehmen diese Situation wahrscheinlich als weniger belastend wahr als Kinder aus ,schwachen’ Familien, deren Eltern stärker belastet sind, die weniger Handlungsalternativen zur Verfügung haben.

Was ist mit Kindern in gewalt-belasteten Familien?

Flammer Zum momentanen Zeitpunkt liegen noch keinerlei Erfahrungsberichte von Kindern vor, die in hoch belasteten, gewalttätigen Familien leben, vor. Dass Kinder mehr Gewalt ausgesetzt sind, sei es durch die Überforderung der Eltern, durch mangelnde soziale Kontrolle oder andere Faktoren, ist zwar zu vermuten, wird sich aber wahrscheinlich erst zeigen, wenn die verschiedenen Betreuungssettings wieder greifen.

Sorgen sich Kinder eigentlich um ihre eigene Gesundheit oder eher um die ihrer Eltern und Großeltern?

Flammer Das kommt auf den Wissensstand der Kinder und ihre unmittelbare Umgebung an: Wennzum Beispiel ein sechsjähriges Kind in einem Mehrgenerationenhaus mit einer vorerkrankten Großmutter lebt, dann macht es sich Sorgen um die Großmutter. Kinder im Grundschulalter sorgen sich eher um die eigene Gesundheit als Kindergartenkinder. Im Alter von drei bis sechs Jahren verfügen Kinder häufig noch gar nicht über die notwendige Antizipationsfähigkeit, um sich konkrete Sorgen bezüglich eines abstrakten Virus zu machen.

Macht ihnen das Virus, das so viel verändert hat, Angst? Oder ist für sie diese Gefahr, auch wenn zum Beispiel im Geschäft der Mundschutz getragen werden muss, zu abstrakt?

Flammer Das Virus löst bei einigen Kindern Angst aus. Aber auch andere Emotionen, wie Wut, Verzweiflung, Ohnmacht oder Trauer sind bei vielen Kindern zu beobachten. Einzelne Maßnahmen, wie das Tragen eines Mundschutzes, gründliches Hände waschen, Abstand halten können, bezogen auf die Ängstlichkeit, in beide Richtungen wirken. Wenn durch die Maßnahmen die wahrgenommene Handlungskompetenz des Kindes steigt, dann wird die Angst verringert. Wenn sich das Kind eher eingeschränkt fühlt, dann wird das die negativen Emotionen verstärken. Wir Erwachsenen können also mit unserer Wahrnehmung und Kommunikation sehr viel zur Wahrnehmung der Kinder beitragen.

Wie können Eltern ihnen ihre Angst nehmen?

Flammer Kinder lernen am Modell, das gilt nicht nur für beobachtbares Verhalten. Kinder beobachten und spüren sehr genau, wie besonnen ihre Eltern auf die momentane Ausnahmesituation reagieren. Dadurch ziehen sie Rückschlüsse, ob die Situation gerade besorgniserregend ist, oder ob sie in der Familie grundsätzlich sicher und gut aufgehoben sind. Wenn Kinder ängstlich reagieren, sollten Eltern zunächst herausfinden, wie konkret die Angst ist und was das Kind gerade braucht. Hat das Kind vielleicht erschreckende Nachrichten gesehen und möchte beruhigt werden? Oder sind die Informationen für das Kind zu diffus und es braucht mehr Klarheit? Oder sind es ganz konkrete Ängste, weil ein Angehöriger im Krankenhaus liegt und beatmet wird? Wichtig ist in jedem Fall, dass Kinder ihre Ängste zeigen dürfen und das Gefühl ernst genommen wird. Angst ist per se ein (überlebens)wichtiges Gefühl und darf sogar wertgeschätzt werden, anstatt es wegnehmen zu wollen.

Was macht das mit Kindern, die nun wochenlang keinen persönlichen Kontakt zu Gleichaltrigen in Schule und Kita hatten?

Flammer Je älter Kinder werden, desto stärker erfolgt ihre Sozialisation innerhalb von Gleichaltrigen. Wenn diese über einen langen Zeitraum nicht greifbar sind, fehlt Kindern ein wichtiger Baustein in ihrer psychosozialen Entwicklung. Je extravertierter Kinder in ihrer Persönlichkeitsstruktur sind, desto belastender werden sie die Kontaktsperren wahrnehmen. Kindergartenkinder entwickeln ihre Fähigkeiten und Kompetenzen im Spiel. Das (Rollen)Spiel mit Gleichaltrigen ist nicht mehr möglich, so dass grundlegende Entwicklungsmöglichkeiten fehlen. Auffälligkeiten im Bereich der sozialen Entwicklung sind zu erwarten. Aber auch in anderen Entwicklungsbereichen wie Sprache, Motorik, emotionale Stabilität können Kinder aufgrund der Isolation in den vergangenen Wochen und Monaten verstärkt Defizite aufweisen. Wenn Kinder langfristig gegen ihren Willen von ihren Freunden isoliert werden, dann kann das eine Vielzahl von Folgen haben. Kinder werden zunächst vielleicht wütend und sie rebellieren, oder sie wirken eher traurig und niedergeschlagen. Andere Kinder fühlen sich mit dem Wegfall der sozialen Bezugsnorm vielleicht wohler als zuvor. Soziale Eingebundenheit und das Gefühl von Zugehörigkeit sind jedoch wichtige Resilienzfaktoren und vor allem ältere Kinder brauchen ihre Kontakte zu Gleichaltrigen, um sich gesund entwickeln zu können.

Ist die plötzliche intensive Zeit mit Eltern/Mutter/Vater Fluch und/oder Segen?

Flammer Wahrscheinlich beides. Das hängt, wie oben schon beschrieben, von der Haltung der Eltern, den individuellen Ressourcen innerhalb der Familie und dem Alter des Kindes ab.

Auch wenn Schule und Kita wieder geöffnet haben, ist die Situation dort noch lange nicht wie vor der Krise. Wie empfinden Kinder das?

Flammer Kinder reagieren auch hier individuell. Manche Kinder können sich flexibler auf die veränderte Situation einstellen, andere reagieren belasteter. Grundsätzlich orientieren sich Kinder aber auch in ihren Betreuungssystemen an ihren erwachsenen Bezugspersonen: Nehmen sie diese als überfordert wahr oder herrscht ein positives, aktives Klima? Sind die vielen neuen Verordnungen Hindernis oder spannende Herausforderung? An der Grundhaltung der Erwachsenen lernen Kinder, ob sie sich fallen lassen können oder angespannt sein müssen.

Welche konkreten psychischen Folgen könnte die Pandemie für einzelne Kinder haben?

Flammer Kinder könne typische Belastungssymptome zeigen, wie zum Beispiel Alpträume, Schlafstörungen, Einnässen, Fingernägel kauen, Weinen, anhänglich sein, Rückzug, impulsives oder aggressives Verhalten. Es ist aber so, dass Kinder während der Corona-Pandemie nicht nur Ängsten ausgesetzt sind, sondern dass Kinder auch wunderbar widerstandsfähige Persönlichkeiten sind. Wenn Eltern entsprechend unterstützt werden, so dass sie für ihre Kinder da sein können, dann können sich die negativen Folgen für Kinder relativieren und ganze Familien gehen vielleicht sogar gestärkt aus der Krise.

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