Neusser Bürgermeister im Interview „Wir werden Mut brauchen“

Interview | Neuss · Der Neusser Bürgermeister Reiner Breuer will in seiner Stadt mit der SPD-geführten Koalition eine sozial-ökologische Erneuerung einleiten. Zur Corona-Krise sagt er: „Wir sind noch lange nicht durch.“

 Reiner Breuer war Landtagabgeordneter bevor er 2015 zum Bürgermeister gewählt wurde. Am 13. September errang er schon im ersten Wahlgang gegen sechs Mitbewerber die absolute Mehrheit der Stimmen.

Reiner Breuer war Landtagabgeordneter bevor er 2015 zum Bürgermeister gewählt wurde. Am 13. September errang er schon im ersten Wahlgang gegen sechs Mitbewerber die absolute Mehrheit der Stimmen.

Foto: Woitschützke, Andreas (woi)

Herr Bürgermeister, angesichts knapper Mehrheiten haben Sie nach der Wahl für eine „Fraktion Neuss“ geworben, jetzt reicht es doch erstmals für eine gestaltende Mehrheit unter Führung ihrer SPD. Ist Ihnen das lieber?

Reiner Breuer Natürlich habe ich diese Mehrheit immer erhofft. Ich war ja viele Jahre in der Opposition. und 15 Jahre Fraktionsvorsitzender der SPD. Aber die Verhältnisse haben sich Stück für Stück geändert – vor allem mit einem Bürgermeister, der ein Parteibuch der SPD hat. Ich habe aber immer Wert darauf gelegt, ein  Bürgermeister aller zu sein und parteiübergreifend zu agieren. Das werde ich auch künftig so halten. Auch in der Koalition, wie sie sich jetzt findet, halte ich es für wichtig, für eine breite Kooperation zu werben, in der man sich an der Sache orientiert.

Damals haben Sie auch gesagt, die CDU mit ins Boot holen zu wollen. Es bleibt also dabei?

Breuer Die CDU ist nach wie vor die stärkste Partei im Rat und wird Opposition sein. Wir sind aber im Stadtrat kein klassisches Parlament. Es geht um kommunale Selbstverwaltung, wo die Sachpolitik im Vordergrund steht. Deswegen bin ich mir sicher, dass die CDU keine Fundamentalopposition anstrebt. Ich werde aber auch versuchen, die CDU abzuholen. 95 Prozent der Entscheidungen im Stadtrat sind einstimmig, der Rest steht in der NGZ. Das war so, das wird so bleiben.

Die Sondierungen sind gelaufen. Welche Rolle haben sie  gespielt?

Breuer Ich bin nur zu Beginn intensiv einbezogen gewesen und werde mich weiter da einbringen, wo ich gebraucht werde.

Michael Klinkicht hat behauptet, die SPD hätte sich in einigen Punkten um 180 Grad gedreht, um auf die Grünen zuzugehen. Sehen sie das auch so oder war das etwas Angeber-Rhetorik für die eigene Basis?

Breuer Ich will die Aussage des Grünen-Fraktionsvorsitzenden  nicht bewerten, habe aber einen anderen Eindruck. Nämlich dass die CDU offenbar bereit war, sich bis zur Unkenntlichkeit zu verbiegen um weiter an der Macht zu bleiben. Das ist nicht gelungen. Die SPD brauchte sich nicht zu verbiegen. Nach dem, was ich als Rückmeldung bekommen habe, gibt es eine hohe Deckungsgleichheit in den  Zielsetzungen von SPD, Grünen aber auch UWG/Aktiv für Neuss – also von „Rot-Grün plus.“

Wieso Plus?

Breuer Die Einbindung von UWG/Aktiv für Neuss ist ein echtes Plus. Das Ziel der Kooperation ist ja eine sozial-ökologische Erneuerung mit einer bürgerlichen und bürgernahen Ausgestaltung.

Womit wir bei den Hoffnungen wären, die Sie persönlich mit dieser neuen Mehrheit verbinden.

Breuer Ja, wir brauchen die sozial-ökologische Erneuerung, denn wir stehen vor großen Herausforderungen. Aber das immer rückgekoppelt mit der Bürgerschaft. Ich glaube, dass die neue Mehrheit eine große Chance ist, um zu notwendigen Veränderungen zu kommen – zur Sicherung der Zukunft der Stadt.

Geht es jetzt möglicherweise mit bestimmte Themen schneller?

Breuer Ich bin der Überzeugung, dass diese Kooperation erfolgreich sein wird, weil sie eine sehr hohe Übereinstimmung in dem Kernziel hat, eine nachhaltige Entwicklung der Stadt zu betreiben. Dazu zählen nicht nur die Herausforderungen der Corona-Krise, sondern auch Klimawandel, neue Mobilität, Stadtentwicklung, Wohnraum. Ich bin überzeugt, dass da ein neuer Schwung entstehen kann.

Einiges haben Sie schon genannt, aber was sind die echten Top-3-Themen, die Sie  angehen wollen?

Breuer Wir werden uns ansehen müssen, wie wir weiterkommen mit der Entwicklung des Wendersplatzes. Zum Rennbahnpark müssen jetzt einige Grundsatzentscheidungen getroffen werden. Und wir stehen vor der Mobilitätswende, da muss schnell gehandelt werden – auch mit Blick auf unseren eigenen Beitrag im Kampf gegen den Klimawandel. Wir werden zu alledem Mut brauchen. Aber es darf auch nicht nur bei strategischen Zielsetzungen bleiben. Wir brauchen konkrete Maßnahmen der Veränderung.

Jetzt sind die Grünen wieder dichter dran am Bürgermeister. Sie und der Grünen-Fraktionsvorsitzende konnten in gemeinsamen Oppositionszeiten gut miteinander, aber zuletzt wurde die Debatte um das Klimaschutzkonzept doch sehr ruppig zwischen ihnen geführt. Lässt sich das kitten?

Breuer Der Eindruck täuscht. Michael Klinkicht und ich kennen uns seit 1999 und haben immer einen guten Kontakt gehabt. Auch in Zeiten von Schwarz-Grün gab es einen regelmäßigen Jour Fixe in meinem Büro. Das waren intensive Gespräche, immer freundschaftlich – aber auch unter den Vorzeichen der Zwänge einer Koalition geführt, die jetzt glücklicherweise beendet ist.

Streitpunkt dabei war die Frage: Haben wir ein beschlossenes Klimaschutzkonzept oder nicht? Haben Sie das klären können?

Breuer Ich habe vorgeschlagen, dass wir dazu noch einmal einen klarstellenden Beschluss fassen. Das Thema muss ohnehin noch einmal für den Rat aufbereitet werden. In der Sache glaube ich werden wir uns schnell einig werden, in welche Richtung es weitergehen muss.

Der Koalitionsvertrag ist noch nicht fix, aber kleinere Differenzen sind schon bei den Sondierungen deutlich geworden. Beispiel OGS- und Kita-Beiträge, wo die Grünen nur über neue Beitragsbemessungsgrenzen verhandeln wollen. Ist das noch zu klären oder ist das ein offener Punkt, mit dem man die Arbeit angeht?

Breuer Es ist erst dann verhandelt, wenn alles verhandelt ist. Die Sondierungen sind positiv verlaufen. Ich begrüße das sehr. Jetzt müssen die weiteren Verhandlungen zeigen, mit welchen konkreten Ergebnissen wir gemeinsame Mehrheiten bilden werden. Es wird immer auch unterschiedliche Ansichten geben, klar. Aber die Gemeinsamkeiten von „Rot-Grün plus“ sind so groß, dass wir erfolgreich sein werden. Ich werde dazu beitragen – als Teil des Teams.

Der Rat steht kurz vor der Konstituierung. Wie normal wird er in Coronawelle zwei überhaupt arbeiten können?

Breuer Normalität gibt es zur Zeit nicht in der Pandemie. Auch demokratische Institutionen sind gehalten, dem Rechnung zu tragen. Nichts desto trotz werden wir versuchen, die Konstituierung des Rates angemessen zu gestalten. Das wird am 6. November nur eine kurze und kleine Veranstaltung werden, die die notwendigsten Beschlüsse fasst.

Was steht denn jetzt besonders dringlich an?

Breuer Zur Konstituierung gehört auch die Frage, wie man sich  organisiert, das Zusammenspiel von Rat und Verwaltung abstimmt. In der Sache gibt es viele Dinge, die entschieden werden müssen. Im Moment beschäftigt uns aber vor allem Corona sehr intensiv.

Wie ist Neuss Ihrer Ansicht nach durch die Pandemie gekommen?

Breuer Wir haben uns gefreut, dass wir in den vergangenen Monaten die Infektionszahlen niedrig halten konnten. Mittlerweile sind wir voll im Trend und haben einen hohen Inzidenzwert, der mir Anlass zur Sorge gibt. Die Maßnahmen, die jetzt ergriffen wurden, haben hoffentlich den Erfolg, den sie haben müssen um zu vermeiden, dass das Gesundheitssystem überlastet wird.

Sie haben kritisch angesprochen, dass der Landrat ihrem Drängen auf schärfere Maßnahmen früher hätte nachkommen müssen. Gerade mit Blick auf die Corona-Zahlen in Neuss. Wäre Neuss geholfen, wenn die Stadt nicht kreisangehörig wäre?

Breuer Die Kreisfreiheit ist ein reizvolles Thema, aber ich werde jetzt kein aussichtsloses Gefecht eröffnen. Aber ich muss doch deutlich machen, dass wir mit 160.000 Einwohnern eine Großstadt sind, die sonst überall in der Bundesrepublik kreisfrei wäre. Daraus leiten wir selbstverständlich den Anspruch ab, dass wir beim Landrat Gehör finden und einbezogen werden – in Fragen, die für Neuss relevant sind. Um das zu klären, bin ich vor zwei Wochen beim Landrat vorstellig geworden. Das gelang zugegebenermaßen nicht zu meiner Zufriedenheit. Aber man muss auch zugestehen, dass die Rechtslage ebenso dynamisch ist wie die Infektionslage. Und es ist nicht ganz einfach, bestimmte Maßnahmen durchzuführen.

Trotzdem hat die Stadt in der Krise Gestaltungsräume gehabt und genutzt. Sie haben den Rettungsschirm initiiert und jetzt ein Hilfspaket für die Wirte. Mit Erfolg?

Breuer Der Rettungsschirm für die Wirtschaft ist angenommen worden. Aber es sind bei weitem nicht die Mittel abgerufen worden, die wir zur Verfügung gestellt haben. Man kann das unterschiedlich interpretieren und sagen: Dann geht es der Wirtschaft ja doch nicht so schlecht. Aber ich fürchte, dass wir da noch lange nicht durch sind. Schwerwiegendere wirtschaftliche und soziale Auswirkungen stehen uns unter Umständen erst im nächsten Jahr bevor, aber auch dafür haben wir Vorsorge getroffen.

Wie?

Breuer Unter anderem mit neuen Initiativen in Richtung Gastronomie. Wir wollen aber auch in Richtung Künstler unterstützend aktiv werden und haben dazu ein neues Programm in der Vorbereitung.

Zum Schluss kurz noch zu Ihrer Person: Sie haben zum dritten Mal eine wichtige Wahl deutlich gewonnen und sich die zweite Amtszeit erkämpft. Mal therapeutisch gefragt: Was macht das mit Ihnen?

Breuer Das macht glücklich. Und vor allem dankbar – in vielerlei Hinsicht aber vor allem in Richtung der SPD. Ich habe mich fast mehr darüber gefreut, dass meine Partei zulegen konnte, als über meine Wiederwahl. Denn das macht eine grundlegende Entwicklung in der Stadt deutlich. Das war keine reine Breuerwahl, sondern eine politische Veränderung. Ich will das nicht überhöhen. Aber seit ich 1987 angefangen habe, Politik zu machen,  ist das ein echter Höhepunkt, den ich erlebe und mitgestalten kann.

Was war der Schlüssel zum Erfolg?

Breuer Ich glaube, dass eine gewisse Verlässlichkeit und Authentizität wichtig sind. Dass man glaubhaft und auch als Person glaubwürdig ist. Die Neusser kennen mich seit Jahren und wissen, was sie an mir haben - oder auch nicht. Man braucht aber auch starken Rückenwind aus Familie, Partei, Verwaltung und Bürgerschaft.

Letzte Frage: Gab es einen Plan B für den Fall einer Wahlniederlage?

Breuer Das Leben geht immer weiter.

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