Kolumne Denkanstoß Was ist eigentlich Heimat für mich?

Mönchengladbach · Der Autor hat mehrere Heimaten. Dazu gehören Dithmarschen, seine Studienorte, Griechenland, Masuren und - Rheydt.

 Aus dem fahrenden Zug fotografiert: Der Blick von der Eisenbahnbrücke in Hochdonn auf den Nord-Ostsee-Kanal. Bei dem Anblick ist Olaf Nöller gerührt.

Aus dem fahrenden Zug fotografiert: Der Blick von der Eisenbahnbrücke in Hochdonn auf den Nord-Ostsee-Kanal. Bei dem Anblick ist Olaf Nöller gerührt.

Foto: Olaf Nöller

Mit dieser Frage habe ich mich kürzlich auf Sylt beschäftigt, obwohl die Antwort nach jeder Anreise klar ist. Immer wenn der Zug hinter Wilster langsam zu steigen beginnt, um auf die alte stählerne Hochbrücke zu fahren, die in schwindelnder Höhe den Nord-Ostsee-Kanal überspannt, dann wird mir ganz seltsam um's Herz. Bei klarem Wetter fällt mein Blick auf die in der Ferne liegenden Schleusenstadt Brunsbüttel, in der mein Vater direkt am Ufer der Wasserstraße geboren wurde, und in der ich als Kind glückliche Ferientage verbrachte. Wenn der Zug dann noch Burg/Holstein passiert, spätestens dann muss ein Taschentuch her. Hier erblickte meine Urgroßmutter das Licht der Welt. Ich hatte sie sehr lieb...

"Was ist das bloß?", so fragte ich mich bei meinen Wanderungen am Meer. Dabei ging mir auf, dass ich bis zum 16. Lebensjahr kaum eine tiefere emotionale Beziehung zu meiner Geburtsstadt "M. Gladbach" hatte. Auch Rheydt, die Heimat meiner Mutter, sagte mir damals wenig. Erst 1975, als das wundervolle Haus meiner Großeltern in Brunsbüttel der Abrissbirne zum Opfer gefallen war, weil das Dorf, in dem sie lebten, der Industriealisierung weichen musste, sattelte ich innerlich um. Ich begann mich mit meiner rheinischen Heimat zu beschäftigen und sie auch lieben zu lernen. Meine "Wahlheimat" aber blieb Dithmarschen.

In der Studienzeit kamen weitere "Wahlheimaten" hinzu: Wuppertal, Göttingen und Berlin. Ich habe dort intensiv gelebt, und wenn ich jetzt dorthin fahre, fallen mir Worte von Hildegard Knef ein: "In dieser Stadt kenn ich mich aus, in dieser Stadt war ich mal zu Haus..." Später fand ich eine andere große Liebe meines Lebens: Griechenland! 18 Mal war ich inzwischen dort und habe Land und Menschen ins Herz geschlossen. Wenn ich auf einer Ägäisinsel aus dem Flieger steige, und der warme Wind, der nach Meer und Oregano riecht, über's Rollfeld weht, dann spüre ich: "Das ist ein Teil von dir!" - ähnlich wie der Blick über die seendurchzogene Landschaft Masurens, die ich mit einer Gemeindegruppe im Juli wiedersehen werde.

Ich bekenne, dass ich mehrere Heimaten habe. Ich verstehe aber auch jeden sehr gut, der unter schmerzhaftem Heimweh leidet: die alte Frau, die aus Schlesien stammt und einst brutal mit ihrer Familie von dort vertrieben wurde, den jungen Flüchtling, der bei allem Gefühl der Sicherheit doch tiefe Sehnsucht nach seiner vertrauten Kultur hat und darunter leidet, dass er seine Familie nur telefonisch bei sich hat; alle, die Menschen vermissen, die ihnen Halt und Heimat gaben. Es gibt nach meiner Erfahrung aber immer auch Möglichkeiten, sich zu beheimaten, irgendwo neu heimisch zu werden, hinein zu wachsen in eine Umgebung, in der man lebt. Anderen dabei behilflich zu sein, das ist eine Tat der Barmherzigkeit.

Heimatliebe ist etwas sehr Kostbares und darum nicht geeignet als Kampfbegriff, um sich von anderen abzugrenzen. Alle sollten begeistert erzählen von der Heimat, die sie in sich tragen, weil das anderen hilft, sie besser zu verstehen. Dabei steht fest: All unsere Heimaten - die vorgegebenen und auch die selbst gewählten - sie sind nur vorläufig! Früher oder später müssen wir sie aufgeben! Darum bleibt wahr, was schon der Hebräerbief in der Bibel für Christenmenschen nüchtern feststellte: "Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir." (13,14). Vergessen wir also nicht, dass wir hier nur auf der Durchreise sind. Es ist auch im Glauben schön und reizvoll zu sagen: "Meine Heimat liegt ganz woanders!"

DER AUTO IST EVANGELISCHER PFARRER IN RHEYDT.

(RP)
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