Duisburg Klingende Geschichtsstunde

Duisburg · „Nach Ägypten wär‘s nicht so weit. Aber bis man zum Südbahnhof kommt.“ Karl Kraus lässt grüßen. An die großen Menschen der Geschichte und die großen Schurken erinnern wir uns leicht. Bis zu Cäsar und Cleopatra wär‘s nicht so weit. Aber bis man bis zum März 1920 kommt. Am 13. März beorderte der rechtsradikale General Walther Freiherr von Lüttwitz die Brigade Ehrhardt nach Berlin, die das Regierungsviertel besetzte. Die Reichsregierung floh. Wolfgang Kapp ernannte sich zum Kanzler. Gewerkschaften und Arbeiterparteien riefen zum Generalstreik auf. Der Putsch scheiterte kläglich. Am 17. März trat Kapp zurück. Im Ruhrgebiet ging der Generalstreik in eine sozialistische Aufstandsbewegung über. Die „Rote Ruhr-Armee“ wurde mit Billigung der neuen Regierung im April 1920 niedergeworfen. Die Zahl der Toten, 1000 oder mehr, ist nicht bekannt.

Kaum ein Ereignis der deutschen Geschichte ist so schnell totgeschwiegen worden. Vor ungefähr einem Jahr allerdings stürmten die Bremer Folk-Avantgardisten Grenzgänger und der in der Homberger Rheinpreußensiedlung wohnende Liedermacher Frank Baier mit Liedern und Texten der Märzrevolution 1920 die Liederbestenliste. Obendrein gab‘s den Preis der deutschen Schallplattenkritik. Jetzt waren die Grenzgänger und Baier in der Bezirksbibliothek Rheinhausen zu hören. Grenzgänger-„Chef“ Michael Zachcial (in Marxloh aufgewachsen) singt und spielt Gitarre; Jörg Fröse sprüht vor Spielfreude an Mandoline, Ukulele, Geige und Banjo; Arne Wagner zupft den Kontrabass und liefert den bissig-intelligenten Texten eine harmonische Basis. Gleichsam sorgt die traumwandlerische Art dafür, dass die Zuhörerschaft mit dem Fuß mitwippen kann. Jörg Fröse ist ein Mann der Melodie. „Funkelstücke“ nennt ein Besucher in der Pause das, was er abliefert.

Zachcial hatte vor Konzertbeginn nicht schlecht gestaunt, als er unter den in der Bezirksbibliothek ausgestellten fotografischen Arbeiten von Brigitte Hempel den Kopf eines Raubvogels mit dem Titel „Grenzgänger“ fand. Und wie ein Greif stürzte sich Zachcial dann auf die „Bonzen“ und ewig Gestrigen hinab. Drachentöter Frank Baier, der das Holzschwert Ukulele mit den klingenden Saiten bevorzugt, genoss sichtlich sein Heimspiel. Mag es am Anfang noch ein paar Skeptiker im Publikum gegeben haben. Zum Schluss waren alle überwältigt und bedankten sich stehend mit minutenlangem Beifall.

„1920 – Lieder der Märzrevolution“, Die Grenzgänger & Frank Baier. Bestellbar ist die CD mit umfangreichem Booklet im Buchhandel. Preis: 17,90 Euro.

(RP)
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