Bildungsaufstieg Von der Industriehalle in den Hörsaal

In meinem Beruf war ich nicht glücklich und vollzog eine radikale Kehrtwende. Jetzt versuche ich den Bildungsaufstieg.

 Unser Autor Tim Feldmann hat sich entschieden, seinen Job als Betriebselektroniker aufzugeben und das Abitur nachzuholen. Nun beginnt er ein Studium.

Unser Autor Tim Feldmann hat sich entschieden, seinen Job als Betriebselektroniker aufzugeben und das Abitur nachzuholen. Nun beginnt er ein Studium.

Foto: Endermann, Andreas (end)

Vier Jahre arbeitete ich als Betriebseletroniker, ein Beruf, den ich nicht mochte. Ich beschloss, meine finanzielle Sicherheit aufzugeben und einen umkämpfen Job mit unsicheren Aussichten auszusuchen: Ich will Journalist werden. Also kündigte ich und holte mein Abitur über drei Jahre auf dem zweiten Bildungsweg nach, um nun das eine oder andere zu studieren. Am besten bis zum Master und in Regelzeit. Vielleicht klingt das ziemlich naiv. Aber das ist es nicht. Abseits häufig eingeschlagener Pfade kann ein Bildungsweg auch anders aussehen. Ich nahm zwar einen langjährigen Umweg, doch bereuen kann ich ihn nicht. Ich brauchte diese Zeit.

„Jetzt noch?“, mag man vielleicht fragen. Immerhin bin ich 24 und beginne meinen Bachelor, während Freunde gerade ihren Master beschließen. Damit bin ich ziemlich allein. Nur etwa 0,3 Prozent der über 8,3 Millionen Schülerinnen und Schüler in Deutschland erwerben ihr Abitur auf einem Kolleg oder Abendgymnasium, nachdem sie einmal berufstätig sind – Tendenz stark abnehmend. Immerhin: Auch Elke Büdenbender, Frau des Bundespräsidenten, besuchte meine Schule, das Siegerland-Kolleg, und Gerhard Schröder begann dort zumindest sein Abitur. „Warum nicht gleich so?“, kann man fragen. Ich ging auf eine Realschule und gestehe, dass Natur- oder Gesellschaftswissenschaften zu dieser Zeit nicht gerade meinen Lebensmittelpunkt darstellten. Statt Schulbüchern galt meine Aufmerksamkeit eher meinen Freunden, Mitschülern – und Mitschülerinnen. Pubertät eben. Voller Hormone und ohne Lebenserfahrung, wie sollte ich eine gute Berufswahl treffen?

„Unser dreigliedriges Schulsystem ist historisch gewachsen – ein ständisches Schulwesen“, sagt Autor und Pisaversteher Christian Füller. Das ändere sich seit der Pisa-Studie dramatisch. „Es ist unfair, wenn man zu den Kindern schon im Alter von zehn Jahren sagt: ‚Du bist praktisch begabt, mach du mal etwas Praktisches.‘ Wir haben also ein historisches Problem mit der Chancengleichheit.“

Das ändere sich gerade extrem in Gestalt neuer Schulformen, in denen sich Kinder nicht mehr frühzeitig festlegen müssten. Noch immer ist das soziale Milieu Heranwachsender maßgebend für deren Bildungschancen: 65 Prozent der Gymnasiasten haben Eltern, die selbst das Abitur oder Fachabitur erlangten, hingegen ist der Anteil der Hochschulanwärter, deren Eltern die Hauptschule besuchten mit nur sieben Prozent marginal. Diese Tendenz spiegelt sich auch in meiner Familie. Meine Eltern haben selbst nie studiert, noch Abitur gemacht. Zusammen verdienen sie ein solides Einkommen und unterstützen mich in meinen Entscheidungen. Eine Universität hat in ihren Leben jedoch nie eine Rolle gespielt – das ist unbekanntes Terrain.

Weitere 45 Jahre in verstaubten Industriehallen – nicht mit mir. Je näher das Ende meiner Lehre rückte, so präsenter der Gedanke: „Das kann es noch nicht gewesen sein.“ Füller, Autor des Buches „Muss mein Kind aufs Gymnasium?“, sagt: „Wir haben heute selbst in Stahlwerken kaum noch Jobs für ungelernte Arbeiter. In unserer Wissensgesellschaft nehmen Anforderungen sowie Qualifizierungen immens zu. Das heißt aber nicht, dass jeder, der Abitur macht, gleich Professor werden muss. Hier sollte gerade an Gymnasien mehr Berufsberatung stattfinden.“ Da stand ich nun also und wusste, was ich auf gar keinen Fall wollte. Doch Orientierung brachte mir dieser Umstand noch nicht. Irgendwann kam mir der Einfall, mich auf das zu besinnen, was mich tatsächlich begeisterte.

Biologie und Politik sind meine Leidenschaften. Beide Fächer unterscheiden sich vom technischen Beruf, den ich lernte. Für beides braucht es ein Studium. Damals war ich nicht sicher, welche Berufe sich daraus ergeben könnten. Doch das ist nicht relevant, wenn ich nur meinen Passionen nachkommen kann. 53 Prozent der 20- bis 24-Jährigen haben das Abitur oder das Fachabitur in der Tasche und ich war nicht mal sicher, ob ich überhaupt noch die Möglichkeit hätte, das Abi nachzuholen. Das Kolleg bot mir jedoch diese unschätzbare zweite Chance. Und der Staat entlohnt es noch. Mit dem Bafög III, der elternunabhängigen Finanzierung, unterstützt er diejenigen, die ihrem Lebensweg noch einmal eine andere Richtung vorgeben wollen. Eine Rückzahlung ist bei dieser Form nicht nötig.

Die Bildungsforschung unterteilt unseren Wissenserwerb in drei Kategorien: Formales Lernen (wie etwa Schule, Studium), non-formales Lernen (etwa Workshops) und schließlich das informelle Lernen (Lesen, Onlinesprachkurse etc.). Circa 70 Prozent unseres Wissens erwächst aus Letzterem. Zum Ende meiner Ausbildungszeit las ich immer häufiger Zeitung. Ich begann, weil mich Tagespolitik und manche Wissenschaftsthemen interessierten und ich hörte nicht auf, weil sich Literatur, Philosophie oder Gesellschaft ebenfalls als spannend herausstellten. Das bereicherte mich. Irgendwann kam mir die Idee, dass ich doch auch selbst Themen recherchieren und adressieren kann.

Von der elektrischen hin zur nachrichtlichen Schaltstelle habe ich eine grandiose Erkenntnis gewonnen: Phantasie und Neugier sind ausschlaggegebende Fähigkeiten, die jeder hat und jeder aufbringen kann, um beinahe jeden ersehnten Berufsweg einzuschlagen. Dass das unüblich ist, macht es nicht unmöglich. „Unser gegliedertes Schulsystem ist sehr bürokratisch, es muss deshalb Schülern besser erklärt werden, wie man sich durch den Zertifikate-Dschungel schlägt. Auch Sie haben gemerkt: Da gibt es keine Deckel über uns, man selbst ist der Deckel.“ sagt Füller. Ich lebe in einem der reichsten Länder der Erde, dessen Bildungssystem auf staatlicher Finanzierung fundiert und hohes Ansehen in der Welt genießt. Ich habe begriffen, dass mir unzählige Chancen zuteil sind. Die meisten tun sich auf, wenn man sich erst einmal auf den Weg gemacht hat.

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