Unterwegs mit Philosophen

Ein Philosoph steht auf der New Yorker 5th Avenue vor einem edlen Schuhgeschäft und erzählt diese Geschichte: Bei einem Spaziergang kommt ein Mann an einem flachen Teich vorbei. Plötzlich sieht er ein Kind, das dort zu ertrinken droht. Der Mann kann das Kind ohne Gefahr retten, das Wasser ist nicht tief. Doch er trägt teure Schuhe. Wie soll er handeln?

Der Philosoph sagt, dass jeder, dem er diese Geschichte erzählt, sofort erwidert, dass die Schuhe egal seien und man das Kind retten müsse. Darüber herrscht Einigkeit. Seine Geschichte hat eine andere Pointe. Denn der Mann könnte das Leben vieler Kinder retten, würde er sein Geld gar nicht erst für teure Schuhe ausgeben, sondern zum Beispiel spenden. Über die Notwendigkeit des Konsumverzichts aber herrscht keine Einigkeit.

Es ist der umstrittene Philosoph Peter Singer, der diese Geschichte erzählt. Der Australier, der an der amerikanischen Elite-Universität Princeton lehrt, hat mit seiner Parteinahme für Schwangerschafts-abbrüche oder Sterbehilfe in den 80er Jahren viel Kritik auf sich gezogen. Inzwischen beschäftigt er sich mit globaler Armut und Entwicklungshilfe. Singer ist einer von acht zeitgenössischen Philosophen, die die kanadische Filmemacherin Astra Taylor für ihren Film "Examined Life" besucht hat.

Zehn Minuten lässt sie jeden Denker zu Wort kommen, und mit jedem ist sie unterwegs. Mit Avital Ronell spaziert sie durch den Central Park, mit Michael Hardt rudert sie über einen See, mit Cornel West fährt sie Taxi. Aus der Bewegung ergeben sich Gedankenströme. Die Filmemacherin stellt nur kurze, allerdings existenzielle Fragen, etwa nach dem Sinn des Lebens, und filmt dann, wie die Philosophen in der Fortbewegung ihre Antworten entwickeln.

Das ist bruchstückhaft, aber ergiebig. Man kann Popstars der Philosophenszene wie Slavoj Zizek auf einer Müllhalde erleben, wie er über die falschen Imperative der Ökologiebewegung philosophiert. Oder der Geschlechter-Forscherin Judith Butler zusehen, wie sie mit einer jungen Frau spazieren geht. Die Frau ist die Schwester der Filmemacherin Sunaura Taylor und sitzt im Rollstuhl. Trotzdem spricht sie selbst von Spazierengehen und steckt bald in einem anregenden Gespräch mit Judith Butler über genormte Bewegungen und darüber, wie viel Anderssein eine Gesellschaft toleriert.

Philosophie ist eine Kunst des geschriebenen Wortes geworden. Zeitgenössische Theoretiker formulieren meist so komplex, dass man ihre Gedanken langsam, lesend nachvollziehen muss. Es ist der Reiz dieses Films von Astra Taylor, dass sie genau diese Philosophen herausfordert, im Gespräch ihre Gedanken zu entfalten. Sie sind so gezwungen, ihre Überlegungen knapp zu fassen und verständlich zu formulieren. Und der Zuschauer wird vor dem Fernseher einmal wirklich zum Mitdenken herausgefordert. Ein großes Vergnügen.

Info Astra Taylor: "Examined Life", Filmedition Suhrkamp, 1 DVD, 88 Minuten, Englisch mit deutschen Untertiteln

(Rheinische Post)
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