Internationaler Tag der Jogginghose Haben wir wirklich die Kontrolle über unser Leben verloren?

Düsseldorf · Heute ist der Internationale Tag der Jogginghose. Wobei die Bezeichnung in die Irre führt. Viele Menschen, die sie tragen, treiben gar keinen Sport, obwohl es ihnen guttäte.

 Der Dresscode fürs Homeoffice: die Jogginghose.

Der Dresscode fürs Homeoffice: die Jogginghose.

Foto: dpa-tmn/Zacharie Scheurer

Neulich, beim Stöbern auf Netflix, endet die Suche abermals bei „The Crown“. Also noch einmal eintauchen in die exklusive Welt der Royals in den 60er Jahren, die auch beim zweiten Anschauen nichts von ihrer Faszination eingebüßt hat, die sich sogar auf geheimnisvolle Weise noch stärker zu entfalten scheint. Es dauert eine Weile, bis der Groschen fällt. Das ist‘s: Die Leute sind einfach tadellos angezogen, die meisten von ihnen strahlen durch ihr Outfit eine sagenhaft lässige Eleganz aus, die ihr selbstbewusstes Auftreten exquisit unterstreicht. Hach, welch modische Wohltat, welch willkommene ästhetische Abwechslung in Zeiten wie diesen, in denen bequeme Zweckmäßigkeit der Kleidung überhandnimmt, erst recht durchs pandemiebedingte Homeoffice.

Seit 2009 wird Schlabberlook auch noch weltweit gefeiert, ermuntert der „Internationale Tag der Jogginghose“ doch an jedem 21. Januar die Fans des lockeren Beinkleids, das gute Stück nicht nur zu Hause zu tragen. Begonnen hatte alles mit einem Spaß, den sich Schüler einer Klasse im österreichischen Graz gemacht hatten, die geschlossen derart angezogen und damit bewusst etwas ungezogen zum Unterricht erschienen waren.

Aber während viele Schulen in der Folgezeit dazu übergingen, sich mit Kleiderordnungen gegen den Trend zu stemmen, fand die Idee mehr und mehr Anhänger unter jenen, die längst der Pubertät entwachsen waren. Am Ende des Jahres zwei nach dem Ausbruch von Corona wohnt dem Akt freilich kaum noch etwas Rebellisches inne. Die Jogginghose ist in vielen Fällen zur Arbeitskluft der Heimarbeiterinnen und Heimarbeiter geworden, die den Mut gar nicht aufbringen müssen, damit ins Büro zu marschieren, weil im Büro nämlich keiner ist.

Früher hätte man in einem solchen Aufzug noch nicht einmal den Müll rausgebracht. Heute laufen einem Jogginghosenträger beinahe überall über den Weg, allerdings gemächlichen Schrittes, nicht etwa joggend. Die Modelle für echte Läufer sind aktuell alle recht eng geschnitten und zieren in der Regel ihre durchtrainierten Träger. Was man von anderen nicht unbedingt behaupten kann, wo der Name der Hose in etwa so viel mit gesunder Bewegung zu tun hat wie die Blusen des Böhmen mit den „Blumen des Bösen“ von Charles Baudelaire. Allenfalls verführt die weite, weiche Trageform durch das viele Sitzen, noch ein bisschen weiter und breiter in die Hose hineinzuwachsen.

„Jogginghosen sind das Zeichen einer Niederlage. Man hat die Kontrolle über sein Leben verloren, und dann geht man eben in Jogginghosen auf die Straße." So lautet das ebenso berühmte wie vernichtende Zitat von Karl Lagerfeld im Original, denn der Modeschöpfer hatte sich in Wahrheit nie generell gegen das Tragen von Jogginghosen ausgesprochen – nur eben gegen das Auftreten mit ihnen in der Öffentlichkeit, von sportlicher Aktivität einmal abgesehen.

Der langjährige Chanel-Chefdesigner würde sich vermutlich im Grab rumdrehen, könnte er die Diskussion verfolgen, ob die Jogginghose nicht doch irgendwann ihren Weg in die Büros findet. Schließlich verschwimmen die Grenzen zwischen drinnen und draußen, zwischen privat und professionell immer mehr. Herrschte schon vor der Seuche in nicht wenigen Büros bereits an jedem lieben langen Werktag der Woche Casual Friday, so hat sich inzwischen eine breite Masse an die alltägliche Jogginghose gewöhnt. Wozu ihr eigentlich noch einen internationalen Aktionstag widmen?

„Die Jogginghose ist Ausdruck einer unverkrampften Lebenshaltung, die sich kaum darum schert, überkommenen Maßstäben zu entsprechen“, nimmt der Kultur- und Modesoziologe Lutz Hieber das umstrittene Stück Stoff in Schutz.  Dies gelte erst recht in einer Gesellschaft, die noch vor wenigen Jahrzehnten autoritär und bürgerlich-konservativ geprägt gewesen sei, so der emeritierte Professor der Leibniz Universität Hannover gegenüber dem Evangelischen Pressedienst: „Die Jogginghose ist weit und locker, widersetzt sich der Förmlichkeit, ist gewissermaßen ein regelloses Kleidungsstück.“ Da wollen wir nicht widersprechen. Leider wird sie überproportional auch von Leuten getragen, die gern auf sämtliche Regeln pfeifen. Wer Polizeimeldungen aufmerksam liest, wird bemerken, dass bei der Täterbeschreibung fast durchgängig die Rede von „war mit einer dunklen Jogginghose bekleidet“ ist.

Zurückhaltend äußert sich Soziologe Hieber zu der Frage, ob die Jogginghose durch pandemiebedingt gelockerte Dresscodes absehbar bürotauglich werden könnte. Viele Arbeitswelten seien nach wie vor von „knochenkonservativen Männern“ dominiert. Je nachdem, wie hartnäckig Konventionen und Rollenmuster seien, könne es lange dauern, bis bestimmte Kleidungsstücke akzeptiert würden. Wie etwa die Fahrradhose für Frauen.  Letzten Endes aber hätten Frauen in allen Schichten und Milieus zu nahezu allen Gelegenheiten wie selbstverständlich Hosen getragen, was beweise, dass sie in der Mode stilbildender seien. Dass eine Büro-Jogginghose irgendwann denkbar sei, zeige die Erfolgsgeschichte der Jeans, die sich von einer Arbeitshose zur „Hose für alle Gelegenheiten“ gemausert habe.

Wer weiß, ob es im Zuge weiter abflachender Hierarchien im Arbeitsalltag überhaupt noch darauf ankommt, wer „die Hosen anhat“. Vielleicht trägt der Chef ja irgendwann eine Jogginghose – mit Bügelfalte. Unser Entschluss steht jedenfalls fest: Noch eine Staffel von „The Crown“!

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