Therapie auffälliger Kinder Heftige Kritik an Klinik in Gelsenkirchen nach Kino-Doku

Düsseldorf · Die aktuelle Kino-Dokumentation „Elternschule“ zeigt, wie auffällige Kinder in einer Klinik in Gelsenkirchen mit Mitteln der Verhaltenstherapie behandelt werden. Das hat eine erbitterte Debatte ausgelöst.

 Klinikangestellte beim Esstraining mit einem Kleinkind (Szene aus der Doku „Elternschule“).

Klinikangestellte beim Esstraining mit einem Kleinkind (Szene aus der Doku „Elternschule“).

Foto: Zorrofilm

Laura schreit – 14 Stunden am Tag. Joshua schlägt und beißt, wenn er wütend wird, und das ist ziemlich oft. Zahra will nichts mehr essen außer Hühnchen-Nuggets. Apathisch sitzt die zarte Fünfjährige vor ihrem Teller, scheint unfähig, die ungeliebte Brötchenhälfte auch nur in die Hand zu nehmen. Für Zahras Mutter ist dieser Ausdruck von Hilflosigkeit unerträglich. Sie will alles tun, damit es ihrer Tochter gut geht, doch ging es der damit zuletzt immer schlechter. Nun sind sie hier, Laura, Joshua, Zahra und ihre Mütter, in der psychosomatischen Abteilung einer Klinik in Gelsenkirchen-Buer. Dort üben Kinder, wieder regelmäßig zu essen, zu schlafen, still zu sein. Und ihre Eltern erfahren in Seminaren, warum sich zwischen Erwachsenen und Kindern Machtkämpfe ab- und einspielen, und wie man diesen Mustern entkommt.

Die Dokumentation „Elternschule“, die gerade ins Kino gekommen ist, zeigt, wie verhaltensauffällige Kleinkinder mit Mitteln der Verhaltenstherapie behandelt werden. Und welche Prozesse ihre Eltern bei dem dreiwöchigen Trainingsprogramm durchlaufen. So werden Kleinkinder, die das Essen verweigern, von Mitarbeitern der Klinik gefüttert. Sie nehmen die Kinder fest auf den Schoß, halten ihre Ärmchen, führen das Essen immer wieder zum Mund.

Ältere Kinder sitzen auch mal die ganze Essenspause unbeachtet vor ihrem Teller und müssen hungrig bleiben, wenn sie nichts anrühren. Schreikinder müssen die Eltern zum Schlafen in ein kameraüberwachtes Zimmer bringen, wo sie das Klinikpersonal begleitet. Schreien lassen gehört dazu.

Bei allen Trainings fließen anfangs viele Tränen, die Kinder wehren sich wie gewohnt gegen das, was plötzlich konsequent von ihnen verlangt wird. Die Doku zeigt das ungeschönt, die Bilder der weinenden Kinder sind hart. Doch irgendwann verebbt der Widerstand, die Kleinen kommen in einen Rhythmus. Am Ende schlafen sie, ohne zu schreien oder löffeln den Brei, den ihnen nun wieder ihre Mütter reichen.

Wird den Kindern da ein heilsamer Rahmen geschaffen, in dem sie mit gesundem Abstand von den Eltern heranwachsen können oder wird ihnen Gewalt angetan? An dieser Frage hat sich eine erbitterte Diskussion entzündet, seit „Elternschule“ in den Kinos ist. Vor allem im Internet schlugen die Wogen hoch, wurden der Klinik Gewaltvorwürfe gemacht, die bis zu KZ-Vergleichen reichten, und den Filmemachern vorgehalten, ohnmächtige Kinder vorzuführen.

Eine Facebook-Seite zur Doku nahmen die Filmemacher vier Tage nach Kinostart vom Netz. Ein sachlicher Dialog mit den Kritikern sei nicht möglich gewesen, sagt Ralf Bücheler, einer der beiden Macher der Doku, „vor allem mussten wir die Familien schützen, die zugelassen haben, dass wir ihren Therapieweg begleiten, und nun miterleben mussten, dass sie übel beschimpft wurden.“

Auch die Klinik in Gelsenkirchen fühlt sich zu Unrecht an den Pranger gestellt. „Natürlich kann ein Film von begrenzter Länge nicht jeden Therapieschritt zeigen. Bei uns werden Kinder zum Beispiel nicht einfach in der Nacht von den Eltern getrennt. Das Schlaftraining wir sorgsam vorbereitet, etwa mit Trennungsübungen über Tag und nach einer mehrtägigen Eingewöhnungszeit der Familie“, sagt Kurt-André Lion, ärztlich psychosomatischer Abteilungsleiter an der Gelsenkirchner Klinik. Ihn ärgert vor allem die Polemik, mit der Kritiker gegen die Methoden in seiner Abteilung wettern. „Wir erleben, dass klare Strukturen und Sicherheit entscheidend sind für das Wohlbefinden von Kindern. Aber wir sagen nicht, dass andere Ansätze falsch oder gar würdelos sind.“

Zu den Kritikern des Films gehört der Arzt und Buchautor Herbert Renz-Polster, der in einem langen Kommentar, den zeitweilig auf seiner Homepage veröffentlichte, der Klinik „unwürdigen Behandlung kleiner Kinder“ unterstellte und den Filmemachern vorwarf, sie verschwiegen, dass es fundierte Kritik an Methoden wie Schlaf- oder Esstrainings gibt. Auch der Kinderschutzbund veröffentlichte eine kritische Stellungnahme, in der er eine verzerrte Darstellung der kindlichen Persönlichkeit in „Elternschule“ moniert, sich dabei allerdings nur auf den Trailer der Doku bezieht und nicht auf die Arbeit an der Klinik eingeht.

Regisseur Bücheler glaubt, dass nicht die Machart des Films provoziert, sondern dass die Doku zwischen die Fronten unterschiedlicher Therapietraditionen geraten sei. „Außerdem glauben viele Menschen, Therapie müsse nur schön sein“, so Bücheler, „die Familien, die wir begleitet haben, sind aber in absoluten Notsituationen. Kein ambulantes Angebot konnte ihnen mehr helfen. Dann ist Therapie nicht mehr nur schön.“

Tatsächlich ist „Elternschule“ ein Film über Therapie. Gesehen wird er aber wohl als Film über Erziehung, denn in einigen Szenen ist der leitende Therapeut Dietmar Langer zu erleben, der das Programm in Gelsenkirchen entwickelt hat und über Erziehungsschwierigkeiten spricht, die alle Eltern kennen. Etwa über das gegenseitige Aufschaukeln in Alltagssituationen, wenn Eltern fordern, Kinder verweigern und die Spannung steigt. Langer spricht oft von „Strategien“, mit denen auch schon Kleinkinder ihre Mittel wie Weinen oder Schreien einsetzen, um ihren Willen durchzusetzen oder Aufmerksamkeit zu bekommen.

Natürlich kann man das auch anders sehen. Die Gegner werfen verhaltenstherapeutischen Ansätzen vor, sie zielten darauf ab, Kinder „gefügig“ zu machen, damit sie schnell wieder „funktionieren“, statt langfristig an der Eltern-Kind-Bindung zu arbeiten. Darin steckt der Vorwurf, das Ziel sei Anpassung und Kostenersparnis, statt das Wohl des Kindes. Es geht in dieser Debatte also grundsätzlich darum, ob Erziehung in erster Linie bedeutet, die Bedürfnisse von Kindern zu verstehen und darauf zu reagieren oder ihnen klare Strukturen zu vermitteln. Ob feste Rahmen Freiheit schenken oder das Einreißen von Zäunen. Es geht um Menschenbilder.

Doch während darüber mit ideologischer Härte gestritten wird, zeigt der Film vor allem das: verzweifelte, überforderte Mütter, die den ungezwungen Bezug zu ihren Kindern verloren haben. Einige weinen, wenn sie die Kinder nur in der Spielgruppe abgeben müssen, andere sind so erschöpft, dass sie dem Therapeuten erklären, ihr Kind müsse ins Heim, wenn sich nichts ändere „definitiv, ich kann das nicht mehr“. Die Doku zeigt, welcher Druck in dieser Gesellschaft auf Eltern lastet, nur ja alles richtig zu machen. Die Unerbittlichkeit, mit der nun über den Film gestritten wird, ist dafür nur ein weiterer Beleg.

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