Gastbeitrag der Schriftstellerin Ingrid Bachér „Ausgeweitet wird die Grube“

Lützerath · Die Düsseldorfer Autorin und frühere PEN-Präsidentin Ingrid Bachèr (92) schrieb schon 2011 mit „Die Grube“ einen Roman über das rheinische Braunkohlerevier. Die Proteste in Lützerath bewegen sie weiterhin.

Die Schriftstellerin Ingrid Bachér 1994.

Die Schriftstellerin Ingrid Bachér 1994.

Foto: Friedrich Brigitte/Friedrich, Brigitte ( bf)

Nun wird wieder abgeräumt, eine alte Kulturlandschaft mitten in unserem Land. Kontinuierlich verschwindet dort für immer, was in Jahrhunderten entstanden ist, Dörfer und Weiler, Wälder und Felder. Nichts bleibt zurück als die nackte Erde nach der Räumung. Und sie wird aufgerissen, abgebaggert, umgewälzt und fortgebracht. Ausgeweitet wird die Grube, tief hinab durch die archäologisch reichen Schichten der Vorvergangenheit. Abgepumpt wird das klarste Wasser, das sich in Jahrmillionen angesammelt hat. Abgeleitet und vergeudet wird es, um tiefer und tiefer zu gelangen, um endlich die Kohle herauszuholen. Ein riesiger Aufwand und doch lohnt er sich noch immer.

Erlebt habe ich das schon vor 43 Jahren, die Faszination der Technik, die Riesenbagger am Rande der ungeheuren Grube, ein künstlicher Canyon, eingeschnitten in die Landschaft, fremdartig anziehend für Besucher. Eine übersteigerte Nutzung des Möglichen. Damals habe ich noch den schönen, in sich so stimmigen Ort Garzweiler kennengelernt, der dem ganzen Gebiet, das ausgeschlachtet wurde, den Namen gab, und später dann der Ausweitung des Abbaus: Garzweiler 2.

Auch dort verschwanden mit den Jahren Straßen und Alleen, die großen Gehöfte und die kleinen Läden, Häuser, Kirchen und Friedhöfe … und die Menschen, deren Heimat sich auflöste, nie wieder zu finden sein wird.

Lützerath ist einer der wenigen Orte, die noch überlebt haben, obwohl schon vor zwei Jahren die Bewohner ihn verließen. Doch wurde er seitdem, durch das Wirken vieler Menschen, die dort hingingen und trotz widrigster Umstände blieben, zum Symbol für den Widerstand gegen das Abbaggern des Landes, gegen den Abbau der Kohle und gegen den erhöhten C02-Ausstoß, der mit dem Verstromen der Kohle verbunden ist. Symbol wurde er für viele Demonstrierende, die auch jetzt wieder aus ganz Deutschland kamen. Sie erwarten, dass sie gehört werden, warten, dass hier eine einzelne Entscheidung ein Zeichen setzen kann. Es reicht ihnen die Zusage nicht, dass nun 2030 statt 2038 der Abbau der Kohle zu Ende gehen soll. Wer garantiert, dass vor 2030 es nicht wieder einen Grund gibt, Verträge zu ändern?

Ich sehe einen Mann an der Abbruchkante der Grube stehen. Er sagt, „Heuchlerisch alle Versprechungen, es geht doch immer so weiter.“ Trotzdem ist er gekommen, weil er das Unheimliche der Situation spürt und selber tätig sein will, obwohl er machtlos ist. „Doch es werden immer mehr kommen, weil sie sehen, was geschieht, weil sie spüren, dass es ernst ist, es müssen noch mehr sein, die kommen, das darf nicht aufhören, falls wir noch eine Chance haben“, eilt er sich zu sagen und lächelt plötzlich.

Lützerath muss bleiben, steht auf einem selbstgemalten Schild, das eine alte Frau hochhält. Doch in den nächsten Tagen wird Lützerath abgeräumt. Es ist richtig, das gesprochene Recht muss durchgesetzt werden. Aber fraglich ist doch, ist dieses Recht, das gesprochen wurde, angemessen dem Recht auf eine friedliches Leben so vieler Menschen auch in der Zukunft? Oder ist es offensichtlich unser Schicksal, dass wir seit langem die Folgen unseres Handelns erkennen, aber nicht fähig sind, unser Handeln zu verändern, selbst wenn wir damit uns selber vernichten?

Im Radio höre ich die Stimme des Ministers: „Die Räumung von Lützerath ist alternativlos.“ Da sind wir wieder in der Sackgasse der Politik, und ich verstehe, wir Menschen sind zu allem fähig, auch zum Herbeiführen der Klimakatastrophe.

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