Nachtzüge Ausgeschlafen

Die Bahn stellt zum Jahresende den Betrieb aller Nachtzüge ein. Viele Waggons sind in die Jahre gekommen, die Betriebskosten hoch. Doch gibt die Bahn mit den Schlafwagen auch ein Stück Identität auf: die Gediegenheit des beschaulichen Reisens quer durch Europa. Eine Wehmüterei.

Es war irgendwo hinter Berlin. Die beiden Frauen im Abteil hatten längst die Liegen bezogen, mit geübten Griffen die Decken eingeschlagen und die ältlichen Kissen in reinem Leinen versenkt. Der Staub der Laken war nun in der Luft.

Zeit, hinaus in den Gang zu treten, sich an die dünne Abteilwand zu lehnen, ein Bein angewinkelt, in die Nacht zu blicken, die hinter den Scheiben die Landschaft längst geschluckt hatte. Und dem Typen mit den spitzen Aufschneider-Schuhen, der glänzenden Anzughose, den schlechten Zähnen zu lauschen, der schon eine unerlaubte Zigarette aus dem Fenster rauchte und in einer eigenartigen Mischung aus Deutsch, Ukrainisch, Polnisch darüber dozierte, dass man zum Geschäftemachen in den Wilden Osten reisen müsse. So wie er.

Die Frauen aus dem Abteil traten nun auch zwischen den Liegen hervor, ließen ihn reden, amüsiert und ein bisschen verächtlich. Die eine, eine polnische Regisseurin, war am Abend in Berlin noch in einer Castorf-Inszenierung gewesen, aber das würde sie erst später erzählen. Erst nach dem zweiten Bier auf ruckelndem Boden und noch ein paar Geschichten des halbseidenen Händlers. Es konnte einen da schon ein Glücksgefühl durchströmen. So ein bisschen naive Dankbarkeit, dabei zu sein, überhaupt auf der Welt zu sein und umherreisen zu können - im Nachtzug nach Warschau.

Es geht um den feinen Unterschied. Um die Differenz zwischen Fahren und Reisen. Das eine hat mit Geschwindigkeit zu tun, mit wachsender Mobilität und Effizienz. Darin will die Deutsche Bahn investieren, neue ICE-4 und Intercity-2-Züge auf die Strecke bringen, das Tagesgeschäft ausbauen, den Billigbussen den Kampf ansagen. Das kostet.

Dafür gibt sie das Reisen auf - diese beschauliche Bewegung, die nicht aufs Ankommen zielt, sondern aufs Unterwegssein. Und auf Begegnungen, Unbekanntes, Unerwartetes. Reisen muss nicht bequem, es muss bereichernd sein. Zum 11. Dezember werden alle klassischen Nachtzüge eingestellt. Kein Schlafwagen wird mehr von München nach Paris rollen, keine Liegen mehr heruntergeklappt auf der Strecke zwischen Wuppertal und Warschau. Die Bahn legt ihre Betten still. Und beendet eine Epoche des Reisens, die in deutschen Landen 1873 begann, als der erste Schlafwagen nach amerikanischem Vorbild von Berlin nach Ostende fuhr. Und ein Zeichen der Moderne setzte.

Die Bahn begründet ihren Schritt wirtschaftlich. 1,3 Millionen Reisende pro Jahr nutzen demnach deutsche Nachtzüge, das macht nur ein Prozent der Tagesreisenden aus. Weil zudem die Betriebskosten hoch sind, fuhr das Nachtzuggeschäft im vergangenen Jahr trotz eines Ertrags von 90 Millionen Euro am Ende einen Verlust von 31 Millionen Euro ein. Dazu sind viele Waggons veraltet und über Tag nicht einsetzbar. Und so schrieben Wirtschaftsprüfer bei der Deutschen Bahn die Nachtzüge wie den Autozug ganz oben auf die Sparliste.

Mit dem Fahrplanwechsel stößt die Bahn also ein lästiges Nischengeschäft ab. Doch sie verliert auch ein Stück nostalgisch getränkter Identität - wie immer, wenn mit einer Tradition gebrochen wird. Schlafwagen, das steht für die Gediegenheit und den Reisehunger des 19. Jahrhunderts, als Schaffner noch Zwirbelbart trugen, Züge am Perron hielten, Hutschachteln im Gepäcknetz lagen und es im Bahnhof keine Service-Points gab.

Doch auch die Schlafwagen der Gegenwart bieten einigen Komfort mit frisch bezogenen Betten, winzigen Waschecken, Weckdienst, Frühstück. Natürlich wäre das auch weiter eine Alternative zum Billigflieger am frühen Morgen. Und es gibt Länder, etwa Österreich, die ihr Nachtzug-Netz ausbauen. So ist die Deutsche Bahn derzeit im Gespräch mit den Kollegen von der ÖBB. Möglicherweise werden sie nicht nur Strecken von Hamburg, Düsseldorf, München nach Österreich und Italien übernehmen, sondern auch Nord-Südverbindungen, die gar nicht durch Österreich laufen.

Der Nachtzug hat also nicht zwangsläufig ausgedient. Er ist nicht nur ökologischer als Billigflieger und befördert die Reisenden ohne lange Sicherheitschecks ins Zentrum der Städte. Er ist auch charmanter. Und beflügelt die Fantasie. Das haben auch große Filmregisseure verstanden, in deren Werken der Nachtzug nicht eine beliebige Kulisse, sondern heimlicher Hauptdarsteller ist.

Billy Wilder etwa setzte in "Some Like it Hot" nicht nur die komische Marilyn Monroe in Szene, sondern auch den Schlafwagen, der nie zur Ruhe kommt. Alfred Hitchcock arrangierte in "Der unsichtbare Dritte" unvergessene Szenen mit dem eleganten Cary Grant in der Koje. Lars von Trier verkehrt alle Reiseseligkeit auf Schienen in ihr Gegenteil und rast in "Europa" im Schlafwagen in einen faschistischen Alptraum.

Der Nachtzug fasziniert. Vielleicht weil Menschen darin große Distanzen überwinden können, ohne das Gefühl für Zeit und Raum zu verlieren. Sie stolpern nicht verdattert aus einem Flieger und sind unmerklich um die halbe Welt gereist. Ihre Ankommen ist noch Ankunft, nicht Aufschlagen in einer surrealen Umgebung - plötzlich in New York, als sei's ein Katzensprung. Im Nachtzug verliert der Reisende nie den Kontakt zur Wirklichkeit, er reist mit Bodenhaftung, nimmt Unbill wissend in Kauf. Natürlich ist es eng in den Schlafkabinen, die Nacht im Zug soll ja anders sein als wohliges Schlummern daheim.

Draußen ziehen die Städte vorüber, auf leeren Bahnsteigen mit milchig-blauem Licht fliegen die Schilder vorüber. Der Reisende bewegt trotzdem den Vorhang, starrt hinaus in die Einsamkeit, sucht Halt auf freier Strecke. Er ist ja unterwegs auf einer Route, nicht ausgeliefert an ein Katapult. Zur Not ließe sich die Bremse ziehen.

Doch anders als Auto oder Bus lässt der Nachtzug Distanzen spüren, ohne zu quälen. Man kann sich ja hinlegen, den Rücken gerade machen, ruhen. Oder sich die Beine vertreten, im Gang stehen, mit Leuten reden, die einem nirgends sonst begegnet wären und zu denen man nur in dieser dämmrigen Atmosphäre auf dem schwach beleuchteten Gang so viel Vertrauen fasst, dass man preisgibt, woher man kommt, wohin man will, auch jenseits der Städtenamen. Man ist ja jetzt Reisender. Und Mitreisender.

Im Nachtzug hat das nie eine ballermannesque Note, keine Nähe zu viel. Es gibt ja den Moment in der Nacht, da sich dann doch alle hinlegen, die Abteiltüren verriegeln, in den Schlaf gleiten, wenn auch nicht so tief. Am Morgen klopft der Schaffner. Dann gibt es Kaffee, man kann sich frisch machen und den Wagen zivilisiert verlassen. Man hat nicht durchgemacht. Man hat sich nicht ganz aus dem Takt bringen lassen.

Natürlich hat sich Widerstand formiert gegen die Pläne der Bahn, das alles zu beenden. So wie damals, als die Speisewagen abgeschafft werden sollten. Diesmal heißen die Initiativen "Nachtzug bleibt" oder "Nachtzug retten", mehr als 33.000 Unterschriften wurden gesammelt. Und Argumente. "Mit dem Nachtzug kann man ökologisch verträglich weite Strecken reisen, ohne Zeit zu verlieren", sagt Bernd Baudler, der eine Internetseite eingerichtet hat, um über das Engagement der Einstellungsgegner zu informieren. "Wer auf diese Art reist, bekommt auch ein ganz anderes Gefühl für Europa: Der Nachtzug überwindet Grenzen, man kommt mit unbekannten Leuten ins Gespräch."

Nachtzug-Schwärmer sind Nostalgiker, Entschleuniger, Abenteurer. Für ihre Art zu reisen können sie keine wirtschaftlichen Argumente ins Feld führen. In einer anderen Welt hätten sie dennoch Gewicht.

(dok)
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