Szenario für Ausfall von Gaslieferungen Habeck will Energieunternehmen im Notfall enteignen

Berlin · Mit einer Novelle des Energiesicherungsgesetzes will Wirtschaftsminister Robert Habeck einem Medienbericht zufolge Vorsorge dafür treffen, Energieunternehmen notfalls unter staatliche Kontrolle zu stellen. Aber nicht nur für die Unternehmen kann es bitter werden: Bei einem Gasmangel müssen sich auch Privathaushalte auf frühzeitige Kürzungen einstellen.

 Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen), Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz.

Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen), Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz.

Foto: dpa/Fabian Sommer

Der neue Chef der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, stellte in einem am Dienstag veröffentlichten „Zeit“-Interview im Falle eines Gasmangels „den uneingeschränkten Schutz“ privater Haushalte infrage. Bisher waren zunächst Einschränkungen für die Wirtschaft vorgesehen. Auch in Regierungs- und Koalitionskreisen heißt es jetzt aber, dass man bei der Reihenfolge der Abschaltungen mögliche Schäden in der Industrie bedenken müsse.

Hintergrund sind Notfallplanungen, wie Deutschland auf einen Stopp russischer Gaslieferungen und Versorgungsengpässe reagieren soll. Die Bundesregierung hatte bereits die erste Stufe des dreistufigen Notfallplans eingeleitet. Russlands Präsident Wladimir Putin drohte am Dienstag erneut damit, die Gaslieferungen zu stoppen, wenn Rechnungen nicht in Rubel bezahlt würden. Zugleich gibt es in der EU Forderungen, einen Gasimportstopp zu erlassen.

Die Bundesregierung und EU-Partner versuchen derzeit in aller Eile, sich auf eine solche Situation vorzubereiten. Der Chef der Bundesnetzagentur, der für die Notfallplanung zuständig ist, warnte aber, dass Deutschland noch nicht auf russisches Gas verzichten könne. „Ich glaube, dass heute, im April 2022, dieser Moment in Deutschland und auch in anderen europäischen Ländern noch nicht erreicht ist“, warnte Müller. Deshalb lehnt die Regierung derzeit in der EU auch einen Gas-Importsstopp für Russland ab und bemüht sich um alternative Lieferverträge mit anderen Staaten.

Das Bundeswirtschaftsministerium will sich als letztes Mittel im Krisenfall auch Enteignungen von Energiefirmen vorbehalten. Wie am Dienstag aus Kreisen des Wirtschaftsministeriums verlautete, soll das noch aus dem Jahr 1975 stammende Energiesicherungsgesetz wegen der Verwerfungen auf den Energiemärkten im Zuge des Ukraine-Kriegs modernisiert und ergänzt werden. Ziel sei es, die Vorsorgungssicherheit zu gewährleisten.

Die treuhänderische Verwaltung könnte der Vorlage zufolge, für die laut den Funke-Zeitungen die Ressortabstimmung eingeleitet wurde, dann durch das Wirtschaftsministerium angeordnet werden, „wenn die konkrete Gefahr besteht, dass ohne eine Treuhandverwaltung das Unternehmen seine dem Funktionieren des Gemeinwesens im Sektor Energie dienenden Aufgaben nicht erfüllen wird und eine Beeinträchtigung der Versorgungssicherheit droht“.

Das Ministerium könne eine solche Anordnung für sechs Monate treffen, sie könne um weitere sechs Monate verlängert werden. Eine Enteignung solle möglich sein, wenn eine Treuhandverwaltung nicht ausreicht, um die Versorgungssicherheit zu garantieren, hieß es. Diese Option sei allerdings die „ultima ratio“, zitierten die Zeitungen aus der Begründung des Gesetzentwurfs. „In Fällen, in denen eine Treuhandverwaltung oder ein anderes milderes Mittel, wie ein alternativer Erwerb nicht geeignet erscheinen, kann eine Enteignung auch unmittelbar erfolgen“, hieß es demnach weiter.

Außerdem will das Wirtschaftsministerium dem Bericht zufolge zur Vorbereitung auf einen möglichen Stopp von Gas-Lieferungen aus Russland eine digitale Plattform einführen, auf der sich große Industrieunternehmen und Gashändler registrieren müssen. Auf Grundlage ihrer Daten solle im Ernstfall entschieden werden, wo Gas eingespart werden kann und wo Abschaltungen erfolgen müssten.

Im Interesse der Versorgungssicherheit solle es im Krisenfall zudem schwieriger werden, Energieverträge zu kündigen. Anbieter, die dies tun wollten, müssten sich das dann zuvor von der Bundesnetzagentur genehmigen lassen. Auch eine Stilllegung von Gasspeicheranlagen soll dem Entwurf zufolge künftig unter Vorbehalt durch die Bundesnetzagentur stehen.

Deshalb muss Müller nun die dritte Stufe des Notfallplans Gas vorbereiten, das eine Reihenfolge der Abschaltungen oder Einschränkungen bei der Gasversorgung regelt. Nach europäischen Vorgaben seien private Haushalte, aber auch Krankenhäuser und Gaskraftwerke, die für die Fernwärmeversorgung zuständig sind, besonders geschützt, sagte er. Müller betonte, dass das Gesetz aus einer Zeit vor der russischen Invasion in der Ukraine stamme, aber nicht schnell geändert werden könne. „Richtig ist aber, dass der uneingeschränkte Schutz für private Verbraucher sehr schwer vermittelbar ist“, fügte der Präsident der Bundesnetzagentur hinzu. In einer Notlage seien die wichtigsten Branchen und Unternehmen zu identifizieren. Das seien zum Beispiel Firmen aus dem Lebensmittel- und Pharmabereich.

Müller kritisierte, dass viele den Ernst der Lage offenbar noch nicht verstanden hätten. „Nicht nur die Unternehmen, auch die Bevölkerung betrachtet die jetzige Situation nicht mit der angemessenen Ernsthaftigkeit“, sagte der Chef der Netzagentur. Alle müssten mit Einsparungen beginnen. „Es gibt drei Parameter, die eine Gasnotlage abwenden können: wenn es uns gelingt, den Verbrauch runterzubringen. Wenn es uns gelingt, mehr Gas zu bekommen. Und wenn es uns gelingt, zwischendurch die Speicher zu füllen.“ Derzeit würde im Notfall das Gas aktuell bis zum Spätsommer oder Frühherbst reichen.

Auf die Frage, ob Saunen und große Single-Wohnungen künftig noch ständig beheizt werden könnten, sagte Müller: „Nein, ich glaube, dass das in einer Gasnotlage auf gar keinen Fall mehr zu rechtfertigen wäre.“ Der private Verbrauch sei noch zu hoch, hier spiegele sich die Krise noch nicht wider.

Zudem kritisierte er, dass nun alle Branchen behaupten würden, sie seien unverzichtbar. So habe er Briefe erhalten, die die Produktion von Schokoladenkeksen als „systemrelevant“ bezeichnet hätten. Sehr viel wichtiger sei aber etwa die Keramikindustrie. Zum einen ließen sich Keramik und Glas industriell nur bei durchgehend konstanten Temperatur produzieren, zum anderen brauche man die Materialien etwa in der Medizintechnik. „Der Industriezweig wäre zerstört“, warnte er für den Fall einer Unterbrechung der Gasversorgung.

(felt/Reuters)
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