Der Mann, der den Tod auslacht von Philipp Hedemann In der Wüste fast verdurstet, im Mittelmeer fast ertrunken

Mai · Ein Afrikaner erzählt die dramatische Geschichte seiner – gescheiterten – Flucht nach Europa.

Der Mann, der den Tod auslacht von Philipp Hedemann: In der Wüste fast verdurstet, im Mittelmeer fast ertrunken
Foto: Concetta Rizzo

Ein Afrikaner erzählt die dramatische Geschichte seiner — gescheiterten — Flucht nach Europa.

Aini "Als unser Boot in Seenot geriet, dachte ich: das war´s jetzt. Ich kann nicht schwimmen. Doch nach mehreren Stunden kamen endlich Schiffe. Aber sie hatten Angst vor uns. Erst als die Frauen die Babys in die Höhe hielten, nahmen sie uns an Bord." Habtu Russoms Flucht endete im Sturm auf dem Mittelmeer. Fast hätte ihn dasselbe Schicksal ereilt, wie die mehr als 400 Flüchtlinge, die in den vergangenen Tagen in den Gewässern vor Lampedusa ertrunken sind.

Wenn die Bilder der Toten gezeigt werden, rückt Habtu Russom im Flüchtlingslager Mai Aini im Norden Äthiopiens ganz nah an den rauschenden Fernseher und betet, dass er keines der Gesichter erkennt.

Der 35-Jährige versteht, warum die Männer, Frauen und Kinder sich auf die völlig überfüllten Booten gedrängt haben. Er hat es einst selbst getan. Die Verheißungen des Lebens im Westen schienen ihm größer als die Risiken der Flucht.

Bei seinem vorerst letzten Versuch, nach Europa zu gelangen, schlich Russom nachts über die die Grenze zwischen Eritrea und dem Sudan. Hätten die eritreischen Grenzer ihn erwischt, sie hätten sofort scharf geschossen. Im Sudan traf Russom auf Menschenhändler. 300 Dollar, die er sich von seiner Familie geliehen hatte, zahlte er ihnen, damit sie ihn in die Hauptstadt Khartoum bringen sollten. Dort werde er gut bezahlte Arbeit finden oder könne die Reise nach Europa fortsetzen, hatten die skrupellosen Geschäftemacher ihm erzählt.

24 Männer und Frauen, die auf das Versprechen reinfielen, pferchten sie auf der Ladefläche eines Toyota-Pick-Ups zusammen. Die menschliche Schmuggelware deckten sie mit einer Plane ab, und rasten jenseits der Hauptstraßen nach Khartoum. Nur 23 der 24 Passagiere erreichten das erste Ziel lebend. "Eine Frau erstickte unter der Plane. Sie hieß Tsigue. Sie war 24 Jahre alt", erzählt Russom.

In Khartoum zahlte Russoum anderen Schmugglern 1000 Dollar. Dafür sollten sie ihn an die libysche Küste bringen. 38 Menschen zwängten die Menschenhändler diesmal auf einem Pick-Up zusammen. Nach drei Tagen brach das Auto in der Wüste zusammen. 15 Tage dauerte es, bis die Gangster den Wagen wieder flott gemacht hatten. In das Wasser, das sie den Flüchtlingen gaben, mischten sie Motoren-Öl, damit die bereits halbverdursteten Menschen weniger tranken. Nachts vergewaltigten sie die Frauen, während Komplizen die Ehemänner mit Kalaschnikows in Schach hielten. Als die verzweifelten Menschen schließlich an der Küste ankamen, drängten sich nur noch 30 Menschen auf der Ladefläche des Geländewagens. Zwei Frauen und sechs Männer hatten die Höllenfahrt nicht überlebt, ihre Leichen waren einfach auf die Piste gestoßen worfen worden.

Doch das Schlimmste sollte noch kommen. Die Fahrt über das Mittelmeer. In der Nähe der libyschen Küstenstadt Zliten ging Russom nachts an Bord des schrottreifen Fischerboots, das fast zu seinem Grab wurde. 518 andere Flüchtlinge will er gezählt haben. Nach rund 20 Stunden Fahrt geriet das völlig überladene Schiff in einen Sturm. Weil der irakische Kapitän und seine drei Besatzungsmitglieder kein Wort Englisch sprachen, musste Russom per Funk den Notruf absetzen, der ihm und den anderen Passagieren wahrscheinlich das Leben rettete und zugleich ihre Hoffnung auf ein besseres Leben mit einem Schlag zunichte machte.

Die Flüchtlinge kamen auf Malta in Abschiebehaft, wurden trotz Hungerstreiks in die eritreische Hauptstadt Asmara geflogen. Als Russom wieder in das selbe Gefängnis eingeliefert wurde, in dem er vor seiner Flucht einsaß, begrüßten die Folterschergen des Diktators Isayas Afewerki ihn mit "Willkommen daheim." Kurz darauf gelang dem Informatik-Studenten erneut die Flucht aus dem Kerker. Diesmal floh er ins Nachbarland Äthiopien. Hier lebt er seitdem im trostlosen Flüchtlingslager Mai Aini. Die Reise durch die Wüste und übers Meer will er nicht noch ein mal wagen. Viele seiner Landsleute hingegen nehmen den Tod in der Hoffnung auf ein besseres Leben billigend in Kauf.

"Die Leute im Lager hören viel zu selten Geschichten von gescheiterten Fluchtversuchen. Sie kriegen immer nur mit, wenn einer es nach Europa geschafft hat und Geld nach Eritrea schickt", beklagt Andemariam Yemane. Fünfmal in der Woche informiert der ehemalige Journalismus-Student die Flüchtlinge im Lager per Lautsprecherdurchsage über Neuigkeiten aus Eritrea, Äthiopien und dem gelobten Westen. Fast jeden Tag warnt er vor den Gefahren der Flucht. "Die Leute denken, alles wird gut, wenn sie es nur nach Europa schaffen. Ich sage ihnen, dass auch das Leben als illegaler Einwanderer im Paradies die Hölle sein kann", sagt der Journalist.

Yordanos Tewelde hört auf die Stimme aus dem scheppernden Lautsprecher. Mit einer Freundin war die 15-Jährige zuvor aus Eritrea nach Mai Aini geflohen. Sie wollte ihrem Vater in die Schweiz folgen. Als sie im Lager davon hörte, dass viele Frauen auf dem Weg durch die Wüste vergewaltigt werden, entschloss sie sich zunächst imLager zu bleiben. Im Rahmen der Familienzusammenführung konnte Yordanos in die Schweiz einreisen — mit dem Flugzeug, Tausende von Metern über dem Mittelmeer, das für Tausende afrikanische Flüchtlinge zum Grab wurde. In ihrer neuen Heimat sitzt sie jetzt wie Russom im Flüchtlingslager in Äthiopien gebanntvor dem Fernseher und verfolgt die Bilder aus Lampedusa.

Der Artikel beruht auf einem Kapitel aus dem Buch "Der Mann, der den Tod auslacht", das jetzt im Dumont-Verlag erschienen ist. Darin berichtet unser Autor Philipp Hedemann über seine Erlebnisse, Begegnungen und Reisen in Äthiopien.

(RP)
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