Brandbrief an die EU-Kommission Alle Covid-Zertifikate laufen bald ersatzlos aus

Brüssel · Sie waren nach dem Impfstoff der zweite helle Lichtblick in der Pandemie: die EU-Covid-Zertifikate machten Reisen, Einkaufen, Speisen wieder möglich. Doch nun laufen sie alle aus. Es gibt keine Vorkehrungen gegen gefährliche Varianten oder neue Viren. Ein Brandbrief ging nun bei der EU-Kommission ein.

 Eine EU-Erfolgsgeschichte: 1,7 Milliarden Covid-Zertifikate wurden erstellt.

Eine EU-Erfolgsgeschichte: 1,7 Milliarden Covid-Zertifikate wurden erstellt.

Foto: dpa/Stefan Puchner

Sie stehen dafür, dass die EU in der Krise auch dort gut funktionieren kann, wo sie eigentlich nichts zu sagen hat: Gesundheitspolitik ist nationale Angelegenheit, Kontaktbeschränkungen Sache der Bundesländer und Regionen und wo es um den Schutz vor Ansteckungen geht wird die europaweite Freizügigkeit nachrangig. Und doch gelang es der EU, über alle diese Schranken hinweg die Freiheit des (geimpften oder genesenen) Bürgers wieder zu ermöglichen. Mit weit über 1,7 Milliarden Anwendungen wurde das EU-Covid-Zertifikat zu einer zuvor unvorstellbaren Erfolgsgeschichte. Vor einem Jahr wurde die Gültigkeit bis zum 30. Juni 2023 verlängert, um gegen neue Varianten und mögliche Folgen gewappnet zu sein. Diese Vorsorge droht nun ersatzlos auszulaufen.

Der CDU-Europa-Abgeordnete, Gesundheitsexperte und Arzt Peter Liese will dabei nicht einfach nur zusehen. Er hat Justizkommissar Didier Reynders und Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides nun in einem dringenden Schreiben aufgerufen, Vorsorge zu treffen, damit die EU-Staaten nicht erneut unvorbereitet in eine Krise tappen. „Wir sind alle sehr froh, dass die Pandemie vorbei ist, und wir benötigen derzeit kein Zertifikat“, räumt Liese in seinem Brief ein, der unserer Redaktion vorliegt. Er selbst halte es auch für unwahrscheinlich, dass eine neue, gefährlichere Covid-Mutation auftreten werde. Allerdings könne man sich da „nicht sicher sein“. Zudem sei allen klar, „dass jedes andere Virus ähnliche Probleme verursachen“ könne.

„Daher denke ich dass wir eine Struktur schaffen müssen, die es uns ermöglicht, bei Bedarf jede Art von Zertifikat schneller einzuführen“, lautet sein Appell an die Kommission. Natürlich werde dieses System nur dann aktiviert, wenn es nötig sei, und man könne auch entsprechende Regelungen festschreiben. „Aber das Zertifikat einfach auslaufen zu lassen und wieder den gleichen Prozess wie im Jahr 2021 zu haben, wenn es nötig wäre, ist eine unbefriedigende Lösung“, unterstreicht der deutsche Abgeordnete der Europäischen Volkspartei.

Auf den Fluren der EU-Organe wird das Problem zwar gesehen, aber die meisten wollen das Zertifikat lieber sang- und klanglos von der Bildfläche verschwinden lassen. Jetzt an eine weitere Verlängerung zu gehen, würde doch nur den Märchen der Coronaleugner Nahrung geben und neue Vorurteile vom angeblichen Überwachungswahn der Staaten aufkommen lassen, ist immer wieder zu hören. Andere erinnern sich daran, dass erst auch datenschutzrechtliche Probleme zu lösen waren.

Dem steht in Deutschland eine aktuelle Inzidenz von nur noch 4,3 Fällen je tausend Einwohner binnen sieben Tagen entgegen. Ein Wert, der eine entspannte Lage beschreibt, zumal derzeit lediglich 290 Intensivbetten von Corona-Infizierten belegt sind. Mindestens einmal geimpft sind inzwischen 78 Prozent der Bevölkerung. Doch wie groß ihr Schutz derzeit noch ist, lässt sich nur schwer vorhersagen. Lediglich 16 Prozent sind inzwischen zweimal geboostert, und auch bei ihnen liegt die letzte Auffrischungsimpfung meist viele Monate zurück. Ob eine neue, tückische Variante harmlos verlaufen würde, lässt sich daher schwer einschätzen.

Es müssten nach dem Auslaufen des Zertifikates nach dem 30. Juni die gesamten technischen, bürokratischen und legislativen Prozesse neu anlaufen. Bei der Corona-Pandemie brauchte die EU dafür 15 Monate. Doch weil vieles nun bereits eingeübt ist, könnte es deutlich schneller gehen. Doch dürfte die finale Regulierung kaum zügiger über die Bühne gehen als beim ersten Mal. Da hatte die Kommission nach der grundsätzlichen Verständigung der Mitgliedstaaten am 17. März 2021 ihren Vorschlag für den Rechtstext fertig, nahmen Parlament und Rat die Verordnung am 14. Juni 2021 an, traten wenig später die ersten sieben Länder in das Covid-Zertifikate-System ein, verfügten anderthalb Monate später dann alle EU-Staaten über die neue Grundlage für Bewegungsfreiheit.

Auf eine neuerliche dramatische Entwicklung bezogen, würde das also bedeuten, dass bei einer Zuspitzung im nächsten Winter die neuen Zertifikate erst im nächsten Sommer zur Verfügung stünden. Ein halbes Jahr lang drohte Europa wieder lahmgelegt zu werden.

Deshalb empfahl der Europäische Rechnungshof denn auch der Kommission, bereits vor Auslaufen der aktuellen Zertifikate „Verfahren vorzubereiten, damit sie im Falle künftiger Krisen schnell reaktiviert werden können“. Doch davon hält die Kommission wenig. Insbesondere die Covid-Zertifikate seien speziell nur für diese Pandemie konzipiert worden, heißt es in einer Stellungnahme zu den einschlägigen Empfehlungen. Teilweise hätten die Mitgesetzgeber sie ausdrücklich „auf die geschätzte Dauer der Pandemie beschränkt“, um ihren Bürgern währenddessen in außergewöhnlichen Zeiten die Wahrnehmung ihres Rechtes auf Freizügigkeit zu erleichtern. Dies habe, so die Kommission „zwangsläufig Auswirkungen darauf, ob es zweckmäßig ist, Verfahren vorzubereiten, die ihre Reaktivierung ermöglichen“. Im Klartext: Brüssel neigt dazu, erst einmal nichts zu tun.

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