Teil 1 der Mauer-Serie Die Welt hielt den Atem an

Berlin (RP). Am 13. August 1961 begann das SED-Regime damit, die Grenze zwischen Ost- und West-Berlin zu sperren: zunächst mit Stacheldraht, schon bald mit einer mehr als drei Meter hohen Mauer. Wer sie als DDR-Bürger von Ost nach West zu überwinden suchte, wurde erschossen. Die hässlichste deutsche Attraktion hatte 28 Jahre, zwei Monate und 26 Tage Bestand.

Orte an der Berliner Mauer damals und heute
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Phantasien treiben oft Blüten. Realitäten, welche die Phantasie übertreffen, sind selten. Der Bau einer Trennmauer quer durch Berlin und um den Westteil der Stadt herum gehört zu der Sorte historischer Rarität, die gegen alles Vorstellungsvermögen vor 50 Jahren Wirklichkeit wurde.

"De mortuis nihil nisi bene" — Über Tote rede man nur gut. Das gelingt bei der DDR nicht. Der Staat, dessen Führung die Mauer ab 13. August 1961 gebaut und sie so zynisch wie armselig "Antifaschistischer Schutzwall" gepriesen hatte, trägt über sein Todesdatum hinaus einen unauslöschlichen Makel. Tilman Mayer von der Universität Bonn bezeichnete die Mauer als politische Ungeheuerlichkeit. Die Mauer gegen die eigene Bevölkerung sei auch das Waterloo des Kommunismus gewesen.

Durch die Mauer stand der nach Kriegsende sowjetisch besetzten Zone, die am 7. Oktober 1949 als DDR (Deutsche Demokratische Republik) gegründet wurde, die Rechtswidrigkeit auf der Stirn geschrieben. Nicht allein Rechtswidrigkeit, sondern auch Menschenrechtswidrigkeit kennzeichnete die DDR. Denn dem Mauerbau folgte in der Logik des Schändlichen der Schießbefehl, gerichtet gegen Bürger, die frei leben und dazu ab Mitte August 1961 lebensgefährliches Sperrgebiet nebst Stacheldraht und Steinwall überwinden mussten.

Am 17. August 1962, ein Jahr und vier Tage nach Beginn des Mauerbaues in Berlin, wurde der Ost-Berliner Bauarbeiter Peter Fechter beim Versuch, die Mauer zu überklettern, von DDR-Grenzposten beschossen. Peter Fechters Sterben dokumentierte vor der Weltöffentlichkeit die Grausamkeit des DDR-Grenzregimes: Der Flüchtende verblutete vor laufenden Kameras. Eine Ost-Berliner Rote-Kreuz-Schwester ließen die Grenzposten nicht zu dem Schwerverletzten durch. Fechter schrie vor Schmerzen und obendrein "Helft mir doch, helft mir doch." Vergebens. Aus West-Berliner Richtung rief eine entsetzte Menge gen Osten: "Mörder, Mörder!".

Am 17. August 1962 und hundertfach davor und danach starben Menschen an der Mauer. Wieder andere ertranken beim Fluchtversuch, sprangen aus Fenstern grenznaher Ost-Berliner Häuser und stürzten zu Tode: Wieder andere überlebten Minenfelder im DDR-Grenzgebiet und tückische Schussautomaten nicht.

Am historischen 13. August 1961 war die Menschheit bedroht, denn ein paar Tage lang spürte man Kriegsgefahr. Aus dem Kalten Krieg, wie man die Nachkriegs-Dauerkonfrontation zwischen Ost und West nannte, drohte ein verheerender militärischer Schlagabtausch zu werden. Der Beginn der Abriegelung zunächst durch Stacheldraht-Sperren und dann Zug um Zug durch das schäbig-monströse, mit den Jahren mehrfach technisch aufgerüstete Bollwerk aus Stein markierte einen historischen Moment, von dem es hieß, die Welt habe den Atem angehalten. Zwei Welten prallten in Berlin aufeinander — die freie, westliche Welt und der kommunistisch-stalinistische Block der Unfreien. Hochgerüstet und ideologisch aufgeladen waren beide Seiten lange, bevor die östliche Führungsmacht Sowjetuion den DDR-Machthabern um SED-Chef Walter Ulbricht den Mauerbau erlaubte.

Die politische Brisanz, die vom 13. August 1961 ausging, veranschaulicht eine Schilderung von Straßenszenen in Berlin zwischen dem 25. und 27. Oktober 1961: "US-Panzer rasselten in schneller Fahrt Richtung Friedrichstraße. Am sogenannten Checkpoint Charlie, einer nun versperrten Übergangsstelle, hielten die Amerikaner plötzlich an. Drei Tage standen ihre Panzer an der Grenze zum sowjetischen Sektor Berlins — mit laufenden Motoren und feuerbereit." Doch schnell wurde den Berlinern, die von den Ereignissen der zurückliegenden Wochen noch geschockt waren, klar, dass den Regierenden in Washington und Moskau nicht der Sinn stand nach Krieg und Sterben für die Vier-Mächte-Stadt an der Spree. Ein Beleg weltpolitischer Verantwortung. Die bedrohlich an die Sektorengrenze rückenden US-Panzer sollten lediglich ein Zeichen dafür setzen, dass Amerika nicht bereit war, sich von DDR-Grenzern beim Betreten des Ostsektors kontrollieren zu lassen.

Die drei Westalliierten und die Bonner Bundesregierung unter Kanzler Konrad Adenauer akzeptierten den Mauerbau — manche sagen, sie befürworteten ihn heimlich, auf dass das Ost-West-Gleichgewicht des Schreckens nicht plötzlich aus der Balance gerate. Eine Bedingung war allerdings unumstößlich: Dass sich Moskau als Aufsichtsmacht auf sein Einflussgebiet, den Ost-Teil Berlins, beschränkt. Als die US-Panzer am Checkpoint-Charlie Stellung bezogen, hatten die Sowjets dort ihrerseits Panzer postiert. Nach sechzehn hoch gefährlichen Stunden zogen beide Seiten ihre Kettenfahrzeuge zurück. Ein deutscher Journalist und West-Berlin-Besucher notierte damals an Ort und Stelle: "Jetzt wussten wir im Westen, die Mauer würde bleiben."

Was unter dem Stasi-Decknamen "Rose" am 13. August, kurz nach ein Uhr, begann, hatte 28 Jahre, zwei Monate und 26 Tage Bestand. Erst durch die friedliche deutsche Revolution öffnete sich die Mauer auf beinahe wundersame Weise am unvergessenen Abend des 9. November 1989. Die hässlichste Attraktion Deutschlands war also doch nichts für die Ewigkeit, wie einer ihrer glühendsten Befürworter, SED-Chef Erich Honecker, einst orakelt hatte.

Als die aus Ostdeutschland stammende Bundeskanzlerin vor wenigen Wochen von Präsident Barack Obama in Washington mit der Freiheitsmedaille der USA geehrt wurde, erwähnte Angela Merkel in ihrer Dankesrede das erste politische Ereignis, an das sie sich erinnert: den Bau der Berliner Mauer vor 50 Jahren. Merkel, die damals sieben Jahre jung war, sah ihre Eltern und andere Erwachsene fassungslos weinen.

Dem Regierenden Bürgermeister von West-Berlin und späteren Bundeskanzler Willy Brandt, in den Tagen nach dem 13. August 1961 in der Öffentlichkeit äußerst präsent und konsterniert über das Geschehen, blieb nichts anderes übrig, als auf die Zusage des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy (1961-1963) zu vertrauen, man würde die Freiheit West-Berlins um jeden Preis verteidigen. Zur Bekräftigung schickte Kennedy sechs Tage nach dem Mauerbau-Beginn seinen Vizepräsidenten Lyndon B. Johnson über den Atlantik. Johnson wurde von dem legendären und in Berlin verehrten General Lucius D. Clay begleitet. Clay hatte 1948/49 einen ersten Versuch der Sowjetunion, West-Berlin durch Abtrennung vom Westen zu drangsalieren, durch eine monatelange Versorgung der Bevölkerung aus der Luft ("Berliner Luftbrücke") sichergestellt.

Bundeskanzler Adenauer mied tagelang nach dem 13. August 1961 die alte Hauptstadt, signalisierte damit: Bitte Ruhe bewahren! Die Berliner nahmen ihm die kühlen Kommentare aus dem fernen Rheinland übel. Das Wort von Adenauers Affront machte die Runde.

Die Mauer war todbringendes Bollwerk für fluchtwillige DDR-Bürger. Sie riss Familien in Ost und West auseinander. Um ein Wort Willy Brandts nach Ende der deutschen Teilung zu variieren: Durch die Mauer kam nicht mehr zusammen, was zusammen gehörte. Sogar Eingänge und Fenster von Häusern, die an der Grenze zu den West-Sektoren Berlins standen, ließ die SED-Führung zumauern.

Die innerdeutsche Grenzlinie zwischen der DDR und der Bundesrepublik war schon 1952 gegen unerwünschte Übertritte nach Westen massiv gesichert worden. Der von Winston Churchill erstmals 1945 erwähnte "Eiserne Vorhang" durch Europa ging in Deutschland zwischen Wismarer Bucht und der Grenze zur damaligen CSSR herunter. Todesstreifen, Wachtürme, Spezialzäune mit Selbstschussanlagen besiegelten den Willen der DDR-Führung, auf flüchtende Bürger "wie auf Hasen zu schießen" (ZDF-Reporter Lothar Loewe).

Nachdem die Mauer um West-Berlin komplettiert war, hatte die DDR für ihre Bürger das letzte Schlupfloch in die Freiheit geschlossen. Von 1949 bis 1961 hatten mehr als drei Millionen Menschen die DDR verlassen. Besonders jüngere, gut ausgebildete Menschen hatten bis August 1961 scharenweise ihr Heil im Westen gesucht. Der DDR war die rechtsstaatlich und sozialmarktwirtschaftlich organisierte Bundesrepublik ökonomisch und technisch schnell enteilt. Freiheit und Wohlstand des Westens übten große Anziehungskraft aus. Die Bundesrepublik lockte, die DDR hatte ein Leck: die bis zum 13. August 1961 existierenden Ost-West-Passagen in Berlin.

Selbst die im Laufe der 10 680 Tage Mauer-Existenz immer mehr perfektionierte Abriegelung beendete den Exodus aus dem "Arbeiter- und Bauernparadies" nicht völlig. Von August 1961 bis zum ersten Passierschein-Abkommen im Dezember 1963 gab es jedoch für die Bewohner beider Stadthälften keine direkten Kontaktmöglichkeiten mehr. Nur noch westdeutsche Passinhaber sowie Ausländer konnten Grenzübergänge passieren. West-Berlin lag da wie eine Insel — rundherum Sperranlagen, dahinter DDR.

(RP)
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