Teil 5 der Mauer-Serie Das miese Image der Fluchthelfer

Berlin (RP). Fluchthelfer schmuggelten Menschen in den Westen, gruben Tunnel, verhalfen zu einem Leben in Freiheit. Trotzdem gelang es der DDR-Propaganda, das Zerrbild der "Geldgierigen" zu verbreiten – auch in der Bundesrepublik.

Orte an der Berliner Mauer damals und heute
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Berlin (RP). Fluchthelfer schmuggelten Menschen in den Westen, gruben Tunnel, verhalfen zu einem Leben in Freiheit. Trotzdem gelang es der DDR-Propaganda, das Zerrbild der "Geldgierigen" zu verbreiten — auch in der Bundesrepublik.

Sie führten Menschen durch die Berliner Kanalisation in die Freiheit. Sie überbrachten falsche und echte Pässe. Sie schmuggelten Ärzte und Techniker in präparierten Autos in die Bundesrepublik Sie lagen wochenlang im Dreck und gruben im Schichtbetrieb Tunnel, durch die Dutzende von der DDR-Einheitspartei SED Drangsalierte flüchten konnten. Und doch hatten diese Menschenfreunde, die Tausenden halfen, viele Jahre lang ein miserables Image. Als geldgierige Ausnutzer deutscher Notlagen wurden sie geschmäht, als Mörder gebrandmarkt. Erst in den letzten Jahren hellten Historiker das Zwielicht auf, in das die Fluchthilfe gerückt worden war: Von einigen, wenigen Kriminellen. Von scharfsinnigen DDR-Propagandisten. Von West-Politikern und Beamten, die um die Entspannung fürchteten. Von ein paar sensationslüsternen Autoren. Nicht zuletzt von Menschen, die meinten, wer Gutes tue, dürfe von der Luft, vielleicht auch von der Liebe leben, nicht aber von seinen Taten. Die Fluchthelfer wurden kurze Zeit gefeiert, dann störten sie.

Jetzt, 50 Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer, melden sich einige der damals Beteiligten im Internet und in neuen Büchern zu Wort, um sich und den Weggefährten vergangener Tage Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Kaum hatte die DDR mit Rückendeckung der Sowjetunion begonnen, den Ostsektor Berlins am Sonntag, dem 13. August abzusperren, begann auch die Fluchthilfe. Zunächst spontan. Unter Verwandten, Verliebten, Verlobten, Freunden. Da in den ersten Tagen nach der Absperrung West-Berliner noch den Ostsektor besuchen konnten, wurden Fluchtwilligen geliehene West-Ausweise zugesteckt, mit denen sie, manchmal mit gefärbten Haaren, über die Grenze gehen konnten. Schon nach wenigen Tagen hatten die DDR-Grenzer das unterbunden. Es gab die ersten Verhaftungen und Verurteilungen. Es begann die organisierte Fluchthilfe.

Deren Anfang ist ziemlich gut dokumentiert. Ihr Chronist ist der 1984 gestorbene Schriftsteller Uwe Johnson. Der hatte 1962 seine spätere Frau Elisabeth mit Hilfe von Studenten aus dem Osten nach West-Berlin geholt. 1963 fragte er, warum junge Menschen ihr Fortkommen, ihre Karriere gefährdeten, indem sie anderen Menschen selbstlos, oft ohne finanzielle Gegenleistung und ohne materiellen Gewinn den Weg aus einem Unrechtsregime in die Freiheit bahnten. Johnson führte mit den Organisatoren eines Studenten-Netzwerks ausführliche Interviews. Ein Buchprojekt scheiterte. Aber eins der Tonbänder ist erhalten und wurde 2010 ausgedruckt. Da sprechen Detlef Girrmann (Jahrgang 1928, gestorben im Frühjahr 2011) und Dieter Thieme (Jahrgang 1928, gestorben im Sommer 2010) über ihre Motive, ihre Methoden, über das, was sie in der Nazizeit und nach dem Krieg in der späteren DDR erlebten. Sie schildern ihre Skrupel und vermeiden große Worte. Girrmann über seinen Antrieb: "Menschen in Not hilft man."

Girrmann und Thieme, beide über 30 Jahre alt, beide DDR-Flüchtlinge, waren im Studentenwerk der Freien Universität beschäftigt, als DDR-Diktator Walter Ulbricht seine Mauer errichten ließ. Im Osten eingesperrt waren auch Hunderte von FU-Studenten, die im Osten Berlins wohnten, aber im Westen Examen machen wollten. Für diese Gruppe entwickelten die gebürtigen Magdeburger Girrmann und Thieme, zu denen sich später noch Bodo Köhler gesellte, ihre ersten Fluchtprogramme. Von Anfang an hatten sie viele Helfer, vor allem Studenten, die als Kuriere echte oder gefälschte Ausweise überbrachten, Menschen über die Grenze halfen.

Diese Kuriere, ohne die keine der vielen Flucht- Organisationen auskam, ohne die Fluchthilfe nicht möglich gewesen wäre, trugen das größte Risiko. Viele von ihnen wurden in Ost-Berlin verhaftet und verurteilt. Viele von ihnen wurden später von der Bundesrepublik freigekauft. Denn nach furiosem Beginn wurde das Risiko immer größer. Immer mehr Fluchtwege, die Touren mit falschen Pässen, teilweise über Skandinavien, später Jugoslawien, die Wege durch die Kanalisation, die Flucht mit präparierten Autos, wurden von der DDR enttarnt. Lange Jahre glaubten Girrmann und Thieme, nach gelungener Flucht seien viele ihrer Klienten zu leichtfertig in der Weitergabe von Informationen gewesen. Erst nach der Wende, bei der Lektüre von Stasi-Akten, erfuhren sie, in welchem Ausmaß ihre Gruppe von DDR-Spitzeln ausgeforscht worden war.

Nicht nur Girrmann und Thieme bemühten sich um sichere Fluchtwege. Schon im September 1961 hatten zwei junge West-Berliner für ihre Ost-Bräute einen Tunnel gegraben, der auf einem Friedhof in Pankow endete. Er bot mehr als 20 in Trauerkleidung gehüllten Ost-Berlinern einen Fluchtweg. Bis in die 70er Jahre wurden in Berlin etwa 40 Tunnel gegraben, manche stürzten ein, andere wurden verraten, ehe sie benutzt werden konnten. Zwei machten besonders dicke Schlagzeilen. Einer, weil er von dem US-Fernsehsender NBC finanziert worden war und die nichts ahnenden Flüchtlinge plötzlich im Scheinwerferlicht in die Freiheit krabbelten. Der zweite, weil er 57 Menschen einen Weg in die Freiheit bot, ehe er von DDR-Grenzern — durch Verrat — entdeckt wurde, wobei nach einem Schusswechsel ein DDR-Unteroffizier getötet wurde. Den Tod des Unteroffiziers Egon Schultz nutzte die DDR, um die Helfer um den Organisator Wolfgang Fuchs als geldgierige, kein Risiko scheuende Menschenhändler darzustellen. Noch 1985 wurde der westdeutsche Astronaut Reinhard Furrer, der als Student in der Gruppe Fuchs eine größere Rolle gespielt hatte, am Tag seines Starts mit der US-Raumfähre "Challenger" in einem "Quick"-Artikel in die Nähe einer kriminellen Organisation gerückt. Nach der Wende stellte sich heraus, Schultz war nicht von West-Fluchthelfern, sondern im Durcheinander von den eigenen Leuten getötet worden. Ein Maueropfer ist auch er.

Dass nicht die Fluchthilfe, sondern der Mauerbau das eigentliche Verbrechen war, geriet im Lauf der Jahre und als Folge der Entspannungspolitik etwas in Vergessenheit. Daran hatte die DDR-Führung heftig mitgewirkt. Fluchthilfe, nicht nur, aber besonders im Tunnelbau, war teuer. Ihre Organisatoren mussten von irgendetwas leben. Girrmann und Thieme verloren ihre Arbeitsplätze. Etliche Diplomaten, die zunächst Pässe nach Ost-Berlin transportiert hatten, wollten Geld. Später transportierten Diplomaten in ihren Autos auch Flüchtlinge, ein sicherer, aber teurer Weg.

Fluchthilfe gegen Bezahlung, war unumgänglich wie die Historikerin Marion Detjen in ihrem Standardwerk "Ein Loch in der Mauer" schreibt. Der DDR aber gelang es, diese Kommerzialisierung als Kriminalisierung darzustellen. Sie brachte ihre Argumentation immer wieder in die Verhandlungen über Passierscheinabkommen in Berlin, über Besuchsregelungen für die DDR, über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Bonn ein. Das ließ die West-Politik nicht unbeeindruckt. Sie wollte bessere Regelungen im deutsch-deutschen Verhältnis, sie konnte nicht alles, was die Ost-Unterhändler vorbrachten, als unerheblich abtun.

Schon zu Weihnachten 1963 hatte der Berliner Senat einen Tunnel der Fuchs-Gruppe lahm gelegt, um das erste Passierscheinabkommen nicht zu gefährden. Später mag mancher Politiker seine hehren Pläne durch das Gehabe mancher Fluchthelfer gefährdet gesehen haben. Denn es gab sie ja, die Schleuser, die stolze Preise nahmen und ihren großspurigen Lebensstil zur Schau stellten. Es gab den Hans Lenzlinger, der sich in seinem von Leibwächtern geschützten Zürcher Haus mit der Knarre in der Hand fotografieren ließ und mit geglückten Fluchten prahlte. Es gab das Brüderpaar, das ein Bordell betrieb und dort Dritte-Welt-Diplomaten gegen dicke Honorare zur Fluchthilfe anwarb. Praktischerweise war einer der Brüder auch gleichzeitig DDR-Agent.

Einige West-Autoren nahmen die dunklen Seiten der Fluchthilfe zum Anlass, das weite Feld zwischen Idealisten und Geld-Haien als Arena von Dunkelmännern darzustellen. In Stuttgart erschien ein bald verblichenes Magazin namens "Zeitung", das die Gruppe um den bescheiden lebenden Wolfgang Fuchs als geldgierige Abenteurer hinstellte.

Das wäre keine Zeile mehr wert, hätte es diese Argumentation nicht in die angesehene und liberale "Zeit" geschafft. Deren Autor, vor einigen Jahren von zwei ehemaligen Mitgliedern der Gruppe, zwei Juristen, befragt, sagte, er sei überlastet gewesen, habe die Argumentation für glaubwürdig gehalten und deshalb nicht selbst recherchiert.

Auch so entstehen Bilder von der Wirklichkeit. Im Fall der Fluchthilfe hatten sie Wirkung. Hatten manche Behörden Delikte von Fluchthelfern zunächst als Mittel zur Bewältigung eines übergesetzlichen Notstands bewertet, so wurden diese bald auch im Westen verfolgt. Denn Passfälschungen waren selbstverständlich auch in der Bundesrepublik strafbar. Zugleich zeigte die Entspannungspolitik ihre Stärke. Die deutsch-deutschen Beziehungen wurden besser, die Zahl der Freikäufe stieg stark an. Die Fluchthilfe wurde in den 80ern von Jahr zu Jahr bedeutungsloser.

(RP)
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