Teil 4 der Mauer-Serie Die Nacht der zerplatzten Träume

Berlin (RP). Am 19. Februar 1977 wollten Eva-Maria Neumann, ihr Mann Rudolf und Tochter Constanze aus der DDR fliehen. Sie wurden an der Grenze gefasst, getrennt und die Eltern inhaftiert. 19 Monate, sieben Tage und elf Stunden später gelangten sie in den Westen. Man hatte sie für 100 000 Mark freigekauft.

Orte an der Berliner Mauer damals und heute
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Es ist diese kalte Nacht, über die Eva-Maria Neumann heute noch nicht sprechen kann, ohne rote Wangen zu bekommen. Die dunkelsten Stunden ihres Lebens waren die vom 19. Februar 1977, in denen all ihre Träume zerplatzten, das vorstellbar Schrecklichste eintrat und die begabte Geigerin ihren Mann und ihre bald vierjährige Tochter für eine Zeit verlor.

Es war schon der fünfte Versuch zur Republikflucht nach vier vergeblichen Anläufen und verstohlenen Abschieden aus der Heimat. In einem Vorort von Leipzig stiegen die drei bei Nacht und Nebel in den blauen Mercedes mit Westkennzeichen. Eine junge dunkelhaarige hübsche Frau und ein fahriger Mann mit schweißnassen Händen nahmen sie auf. Der von West-Verwandten organisierte Schleuser sollte sagen: "Ich bin der Otto." "Das hat der Hassan mir gesagt" — lautete die verabredete Antwort. Doch dazu kam es bei der Hektik gar nicht. Man stieg ein, die kleine Constanze in leichtem Schlummer auf dem Arm der Mutter. Vor der Autobahnauffahrt zur Transitstrecke mussten sie zu dritt in den Kofferraum des mit Luftschlitzen präparierten Wagens umsteigen. Vater, Mutter, Kind als lebende Gepäckstücke und dazu ein Ersatzreifen — Raum war knapp. Die Geige passte nicht mehr hinein, sie musste auf dem Rücksitz verstaut werden. Hoffentlich würde das nicht auffallen!

Neben aller Angst hatte Eva-Maria Neumann ein ungutes Gefühl, dunkle Vorahnungen beschlichen sie. Der Fahrer fuhr hektisch und unkontrolliert, die Tochter wachte auf, jede Minute dehnte sich zur Ewigkeit. Dann plötzlich ein Stopp, Türenschlagen, Schritte, die sich entfernten. Eine halbe Stunde Totenstille, dann der schnarrende Befehl: "Machense mah denn Gofferraum off!" Hunde näherten sich, kratzten am Kofferraum, geiferten, bellten. Durch die kleinen Löcher im Deckel konnte Eva Neumann ihren heißen Atem spüren. Als die Kofferraumklappe aufging, starrten schwer bewaffnete Grenzsoldaten sie an, sie hatten ihre Karabiner auf die Flüchtlinge gerichtet. Die "Beute" wurde fotografiert, zum Aussteigen gezwungen. Weglaufen würde den Tod bedeuten. Schnell trennte man die drei Menschen, entkleidete die Erwachsenen vollständig und untersuchte sie. Constanzes Puppe wurde gefilzt, dem geliebten Spielzeug mit Echthaar von der Oma wurde der Bauch aufgeschlitzt. "Der Genosse bringt ihre Tochter in ein Kinderheim", hieß es. Die Mutter durfte Constanze nicht einmal mehr zum Abschied in den Arm nehmen. Alle Türen gingen zu. In dieser kalten, rauen Februarnacht zerbrach etwas in Eva-Maria Neumann, das bis heute, 34 Jahre danach, nicht vollständig wieder zusammengewachsen ist. "Das Herz zerreißt", sagt sie. "Das Herz tut wirklich weh — unbeschreibbar."

Für 19 Monate, sieben Tage und elf Stunden kam die damals 26-jährige Leipzigerin in verschiedene Gefängnisse, ihrem Mann erging es nicht anders. Verhöre rund um die Uhr, Schlafentzug, Erniedrigungen und unvorstellbare Qualen erlebte die junge Frau. "Beim Leben in Zellen, gemeinsam mit Schwerstkriminellen, ohne Privatsphäre, zerbricht jegliches Schamgefühl. Selbst beim Verrichten der Notdurft war man nicht alleine. Am Schluss war ich so abgebrüht, dass ich das nicht mehr empfunden habe. Nichts zum Leben hatte man, man konnte sich nicht einmal aufhängen! So engmaschig war die Kontrolle." Schwer krank ist Eva-Maria Neumann im Gefängnis geworden, rheumatische Schübe verformten ihre Gelenke, sie litt dazu unter Hormonstörungen. Ihre Periode blieb im Knast aus. Sie würde nie mehr wieder Kinder bekommen können. Und ob sie jemals wieder Geige spielen könnte, schien fraglich. Das Schlimmste aber war die Trennung von ihrem Mädchen, für das sie das Abenteuer Flucht im Grunde auf sich genommen hatte.

Für 100.000 Mark kaufte die westdeutsche Regierung das Ehepaar frei. Im September 1978 transportierte man sie in Bussen in die Freiheit. "Herzlichen Glückwunsch", sagt der Busfahrer nach Passieren der Grenze auf einer Sonderspur. "Nun haben Sie es geschafft." Er hielt belegte Brötchen, Apfelsinen und Schokolade bereit für die ausgezehrten Menschen, die im Gefängnis nicht einmal Milch bekommen hatten. Im Notaufnahmelager Gießen empfing sie ein Brief der Schwägerin: "Es ist vollbracht! Herzlich willkommen im besseren Deutschland!" Die kleine Constanze durfte erst Monate später in den Westen; sie war während der Haft der Eltern aus dem Kinderheim heraus- und zur Oma gekommen.

35 000 politische Gefangene sind von Westdeutschland in den Zeiten des Kalten Krieges freigekauft worden, Menschenhandel war das und ein lukratives Geschäft für die DDR, in der es trotz der geschätzten 250 000 Frauen und Männer offiziell keine politischen Gefangenen gab. 3,5 Milliarden Mark sollen geflossen sein bei den Freikäufen zwischen West und Ost.

"Sie nahmen mir nicht nur die Freiheit", heißt das Buch, das Eva-Maria Neumann über ihre Flucht, ihr Leben vor und nach der Haft geschrieben hat. Dieses Schreiben, zu dem sie ihre Tochter ermutigte, hat für sie einen Teil des Bewältigungsprozesses bedeutet. Sie hat sich auch mit Hilfe guter Psychotherapeuten von ihrem Trauma befreit, ein Trauma, das ihr über zehn Jahre Depressionen bescherte und die Gesundung von Körper und Seele erschwerte. Ein Jahr lang hat sie im Westen im Krankenhaus verbringen müssen, damals hat sie alles auf lose Blätter aufgeschrieben.

Sie erzählt in diesem erschütternden Zeitdokument auch von ihrer Jugend, von ihrem jüdischen Großvater, der in Auschwitz umkam, ihrem halbjüdischen Vater, der als Zwangsarbeiter unter den Nazis zwar überlebte, aber bis zu seinem Tod schwer traumatisiert blieb. "So war es verständlich, dass wir nach dem Krieg von dem Gedanken des Antifaschismus begeistert waren", erzählt sie. Doch zu schnell sei eine neue Diktatur entstanden. Die Eltern hätten nie gegen die DDR geschimpft, erzählt Neumann, aber mit zehn habe sie schon gespürt, dass sie nicht alles sagen durfte, was sie dachte. "Meine Mutter warnte mich, denn ich hatte 'ne große Klappe." Mit 14 trat sie in die FDJ ein, doch nie in die Partei. Als sie mit 16 an der Hochschule marxistische Philosophie hörte, wurde ihr bewusst, dass sie weltanschaulich in der Luft hing. Bald kam sie enger mit ihrem späteren Mann zusammen, dem 21 Jahre älteren Rudolf Neumann, den sie schon mit 12 kennengelernt hatte. Ein Kirchgänger war er, auch Musiker, so wie sie nicht in der SED. "Wir zwei fanden uns. Wären wir ganz ehrlich gewesen, hätte man uns wegen staatsfeindlicher Hetze weggesperrt." Die Stasi war allgegenwärtig, sie habe sich furchtbar eingesperrt gefühlt, weil sie nicht einmal denken durfte, was sie wollte. "Die Mauer hat mich zornig gemacht. Beim Mauerbau war ich zehn Jahre alt, auch meine Eltern waren total fertig. Drei Millionen Menschen waren rechtzeitig geflohen. Jeder wusste, dass der antifaschistische Schutzwall nur dazu errichtet worden war, uns gefangen zu halten!"

Der Gedanke an Flucht lag nahe, Verwandte hatten es geschafft, die Schwiegermutter lebte als Rentnerin im Westen. Den letzten Impuls gab das Kind: Constanze sollte in einem freien Land aufwachsen. "Wir haben das Beste für unser Kind gewollt. Wir wollten nicht die geistige Vergewaltigung, eine Erziehung zu Anpassung, Lüge und Hass." Bis heute hat Eva-Maria Neumann noch nicht wirklich verwunden, was sie ihrem Kind aus ihrer Sicht angetan hat. Durch die Ereignisse der Nacht ist eine Art Grundschuld auf ihrer Seele eingetragen, die sie nicht zu tilgen vermag. Die Monate der Trennung von Mutter und Kind hat sie in ihren Augen nie wieder gut machen können, den Schrecken der Nacht im Gedächtnis nicht auslöschen können.

Heute lebt Familie Neumann in Aachen, Rudolf Neumann wurde im Westen Musikschulleiter, Eva-Maria Neumann aus Krankheitsgründen zunächst Frührentnerin. Später begann sie, als Geigenlehrerin zu arbeiten. Sie empfindet weder Hass noch Rachegefühle. Dass viele ehemalige DDR-Verbrecher heute eine ordentliche Rente bekommen, kommentiert sie mit einem Lächeln. Sie geht auch nicht wie ihre ehemaligen Mithäftlinge auf Jagd nach den Bösen von früher, den Aufseherinnen etwa. "Für mich ist die Sache beendet", sagt sie. "Ich will nicht, dass die, die Macht über mein Leben hatten, heute noch Macht darüber haben."

Die Westdeutschen interessierten sich nicht sonderlich für ihr Schicksal, sagt Eva-Maria Neumann. Und doch ist sie mit ihrem Buch, das mehr als 25 000 Mal verkauft wurde, auf Lesereise unterwegs. Kürzlich hat ihr ausgerechnet in einer Buchhandlung ihrer Heimatstadt Leipzig ein Mann einen Brief in die Hand gedrückt. "Ich weiß, wer Sie verraten hat", hat er darin aufgeschrieben. Zu einem Treffen ist es nie gekommen. "Vielleicht ist es auch gut, es nicht zu wissen. Es ändert ja nichts."

(RP)
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