Gastbeitrag Jürgen Rüttgers, NRW-Ministerpräsident a.D. Der Anfang der Bundesrepublik vor 70 Jahren

Düsseldorf · Seit sieben Jahrzehnten gibt es die Bundesrepublik Deutschland in diesem Herbst. Am 15. September 1949 wurde Konrad Adenauer zum Bundeskanzler gewählt. Die notwendige Mehrheit erlangte er nur mit einer Stimme: seiner eigenen.

Gastbeitrag Jürgen Rüttgers, NRW-Ministerpräsident a.D.: Der Anfang der Bundesrepublik vor 70 Jahren
Foto: ullstein bild

Vor 70 Jahren wurde die Bundesrepublik Deutschland gegründet. Nach der Verabschiedung des Grundgesetzes und der ersten Bundestagswahl galt es, den Bundeskanzler zu wählen, das Bundeskabinett zu vereidigen und die erste Regierungserklärung abzugeben. Adenauers Regierung sollte für den Wiederaufbau mit einer Sozialen Marktwirtschaft, dem Bekenntnis zu einem vereinten Europa, der Schaffung einer föderalen Demokratie, einem Rechtsstaat und einer funktionierende Gewaltenteilung stehen. Diese Politik der Westbindung war hoch umstritten.

Viele eher konservative Parteimitglieder der Union glaubten, dass Deutschland eine Brücke zwischen Ost und West sein sollte. Dass es ihm gelang, diese Unterschiede zu überbrücken, war eine „taktische Meisterleistung“ Adenauers.

Erleichtert hat ihm dies eine Analyse der Landtagswahlergebnisse. Die CSU hatte bei der Bundestagswahl nach vielen Querelen und Streitigkeiten mit der CDU eine schwere Niederlage in Bayern erlitten. Sie war von 52,3 Prozent bei der ersten Landtagswahl auf 29,2 Prozent zurückgefallen. Das führte dazu, dass die neue Bundesregierung nicht nur zwischen CDU/CSU und FDP gebildet werden konnte, sondern auch noch die Deutsche Partei (DP) für eine stabile Mehrheit erforderlich war. Sogar die anwesenden Gewerkschaftler stimmten zu, weil auch der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher gegen eine Große Koalition sei.

Allerdings mussten die Mitglieder der Fraktion noch überzeugt werden. Als Kurt Schumacher dann selbst seine Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten in der SPD durchsetzte, stellten viele Wahlmänner der neuen Regierungskoalition die Bedenken gegen Theodor Heuss zurück. Am 11. September wurde er im zweiten Wahlgang zum ersten Bundespräsidenten gewählt; er wurde ein populäres und überzeugendes Staatsoberhaupt. Im Bundesrat wurde überraschend Karl Arnold statt Hans Ehard zum Präsidenten gewählt. Die CSU konnte daraufhin mit Fritz Schäffer das Finanzministerium besetzen.

 Jürgen Rüttgers, früherer Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und Autor dieses Gastbeitrags.

Jürgen Rüttgers, früherer Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und Autor dieses Gastbeitrags.

Foto: Christoph Goettert (goet)/Göttert, Christoph (goet)

Auch die Wahl Konrad Adenauers zum Bundeskanzler am 15. September 1949 fand die notwendige Mehrheit, wenn auch nur mit einer Stimme, nämlich seiner eigenen. Fünf Tage später stand die erste Regierungserklärung auf der Tagesordnung des Bundestages. Auch das neue Bundeskabinett sollte vereidigt werden.

Viele Besucher kamen ins Museum König in Bonn, in dem das neue Bundeskanzleramt zwischen ausgestopften Elefanten und Giraffen provisorisch untergebracht war. Viele wollten Minister oder Staatssekretär werden. Zentrale Entscheidungen – wie die Ernennung des Bundesinnenministers – mussten besprochen werden. Am Schluss wurde der prominente evangelische Christ Gustav Heinemann, der das Amt des Präses der Synode der evangelischen Kirche ausübte, vereidigt. Die Grundzüge der Regierungserklärung wurden erst um 12 Uhr vom neuen Kabinett genehmigt. Sieben Sekretärinnen mussten unter Zeitdruck die Reinschriften der 25 Seiten des Entwurfs fertigen. Adenauer begann seine Regierungserklärung mit einem Bekenntnis zur Sozialen Marktwirtschaft.

Die grundlegende Aussage war: „Die Frage: ‚Planwirtschaft‘ oder ‚Soziale Marktwirtschaft‘ hat im Wahlkampf eine überragende Rolle gespielt. Das deutsche Volk hat sich mit großer Mehrheit gegen die Planwirtschaft ausgesprochen.“ Adenauer erklärte dazu, dass die „überwiegende Mehrheit des deutschen Volkes vom Sozialismus in allen seinen Schattierungen nichts wissen will“.

Gastbeitrag Jürgen Rüttgers, NRW-Ministerpräsident a.D.: Der Anfang der Bundesrepublik vor 70 Jahren
Foto: Rheinische Post

Ein weiterer Punkt der Regierungserklärung war ebenso von besonderer Bedeutung. Auf dem Hintergrund rechtsradikaler Umtriebe erklärte der Bundeskanzler: „Wir halten es für unwürdig und für an sich unglaublich, dass nach all dem, was sich in nationalsozialistischer Zeit begeben hat, in Deutschland noch Leute sein sollten, die Juden deswegen verfolgen oder verachten, weil sie Juden sind.“ Das Thema Antisemitismus ist leider immer noch – nach 70 Jahren – aktuell.

Drei Wochen nach der Regierungserklärung des Bundeskanzlers reagierte die Sowjetunion mit der Gründung eines zweiten deutschen Staates. Am 7. Oktober konstituierte sich die DDR, die durch die Schaffung mehrerer Zentralorgane bereits vorbereitet war.

Normalerweise haben neue Amtsinhaber eine Einarbeitungszeit von 100 Tagen, eine in Deutschland übliche „Schonfrist“. „Die ersten Schwierigkeiten […] sind schon da“, schrieb Adenauer an Wilhelm Sollmann, einem Sozialdemokraten, der im Exil in den USA lebte und mit dem Adenauer in Köln gegen die Nazidiktatur gekämpft hatte. In der ersten Woche nach der Regierungserklärung tagte das Kabinett acht Mal. Hinzu kamen Treffen der Minister mit besonderer wirtschaftspolitischer Verantwortung. Großbritannien hatte das Pfund um 30 Prozent abgewertet; andere europäische Länder folgten ganz oder teilweise. Der Wert der D-Mark war bei seiner Einführung mit 3,33 DM für den Dollar festgelegt worden. Manche glaubten, dass die Nachbarländer durch die Abwertung Ballast gegenüber dem neuen Staat und seine Wirtschaft abwerfen wollten. Immer wieder fragte Adenauer seine Minister nach den wirtschaftlichen Folgen für die kleinen Leute. „Wie steht es mit dem Brot?“, wollte er wissen.

Verbunden war die Frage mit der Höhe des Kohlepreises für die deutsche Wirtschaft und dem Preis für die Kohlelieferung vor allem an Frankreich. Durch die Abwertung, die nicht für die Nachbarstaaten gelten sollte, ergab sich eine Mehrbelastung von 420 Millionen DM, einer damals extrem hohen Summe.

Mit der Konstituierung der Bundesregierung trat auch das neue Besatzungsstatut in Kraft. Adenauer war bei den „Hohen Kommissaren“ vorgeladen, die jetzt auf dem Petersberg im Siebengebirge residierten. Dort wollte man ihm das neue Besatzungsstatut überreichen. Das Protokoll sah vor, dass der Bundeskanzler vor dem Teppich stehen sollte, auf dem die „Hohen Kommissare“ Aufstellung genommen hatten. Bei der Begrüßung betrat Adenauer den Teppich, eine symbolische Geste. Diese erste Kontroverse bestimmte das zukünftige Verhältnis. Dennoch gelang es mit dem „Petersberger Abkommen“ vom 29. November 1949, die deutschen Interessen vor allem beim Thema Demontage der deutschen Industrie stärker zu berücksichtigen. Gleichzeitig sorgten die Vereinigten Staaten dafür, dass Frankreich auf die neue deutsche Regierung zuging, um Deutschland in die westeuropäischen Einigungsprozesse einzubeziehen. Der nach dem französischen Außenminister Schuman benannte Plan sah vor, die deutsche und französische Stahl- und Kohleproduktion unter eine gemeinsame Hohe Behörde innerhalb einer Organisation zu stellen, die für die Beteiligung anderer Länder Europas offen sein sollte. Nachdem Adenauer über den Plan des französischen Außenministers informiert worden war, sagte er: „Das ist unser Durchbruch.“

Die Bundesrepublik war erstmals gleichberechtigt in eine internationale Organisation aufgenommen worden.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort