Frauen in der Türkei Ohne Kopftuch

Istanbul · Im Internet berichten Türkinnen, warum sie die Kopfbedeckung abgelegt haben. Ein Wagnis für die Frauen – und bedrohlich für Erdogan.

 Zeichen der Unterdrückung? Eine Frau mit Kopftuch in der Türkei.

Zeichen der Unterdrückung? Eine Frau mit Kopftuch in der Türkei.

Foto: AP, AP

Eine Spaßwelle rollt derzeit durch die sozialen Netzwerke. Unter dem Stichwort „10 Year Challenge“ („Zehnjahresherausforderung“) teilen weltweit Tausende Menschen Fotos von sich, die sie vor zehn Jahren und heute aufnahmen. In der Türkei hat die Kampagne eine unerwartete politische Dimension gewonnen. Tausende junge Frauen, die früher ein Kopftuch trugen und es inzwischen abgelegt haben, zeigen Vorher-Nachher-Bilder auf Instagram, Facebook oder Twitter und schreiben, dass sie nun „frei“ seien.

Die herrschenden Islam-Konservativen sind nicht amüsiert. Denn die Frauen untergraben die Islamisierungspolitik von Präsident Recep Tayyip Erdogan, dessen erklärtes Ziel es ist, in der Türkei eine „fromme Generation“ heranzuziehen.

In einem der ersten Tweets zeigte eine junge Türkin links ein altes Bild, auf dem sie ein beiges Kopftuch trägt, rechts ein Foto mit schulterlangem braunen Haar. „Wir wurden erwachsen, schöner, freier“, schrieb sie dazu. Einen Tag später löschte sie den Post wieder – vielleicht, weil sie von der Reaktion überwältigt war, denn über 30.000 Menschen hatten ihren Tweet geliked, aufgeregte Konservative schickten Drohungen.

Eine Lawine kam ins Rollen. Viele Frauen posten nicht nur Fotos, sondern schreiben auch kurze Texte, in denen sie erklären, wie sie sich von einem frommen Mädchen in eine Frau verwandelten, die sogar den Islam selbst infrage stellt – im repressiven politischen Klima der Türkei ein erhebliches Wagnis.

Eine überwältigende Mehrheit erzählt, ihre Familie habe sie unter das Kopftuch gezwungen, es sei schwer gewesen, sich daraus zu lösen. „Niemand kann mit zwei Identitäten leben“, schreibt die Nutzerin Ruken. „Wir weigern uns, ein Leben zu leben, das wir uns nicht ausgesucht haben.“ Auf dem linken Foto trägt sie einen langen Mantel und das strenge, in der Türkei „Türban“ genannte Kopftuch, das kein Haar freilässt. Auf dem rechten ist sie mit lockigen Haaren und zwei Lippenpiercings zu sehen. Andere offenbaren, dass sie früher für das Recht eintraten, das Kopftuch zu tragen, und dass die Kehrtwende extrem schwer war. Besonders häufig ist die Bitte: „Lasst uns selbst entscheiden!”

Zwar haben einige Frauen ihre Bilder inzwischen wieder aus dem Internet gelöscht, aber insgesamt nehmen dermaßen viele an der Aktion teil, dass die verbreitete Selbstzensur offenbar nicht greift. Das Kopftuch-Thema ist in der Türkei seit jeher politisch extrem aufgeladen. Die seit 2002 regierende islamische AKP gewann anfangs viele konservative Anhänger, weil sie ihnen versprach, das Kopftuch zu entkriminalisieren. Obwohl die Partei den herrschenden Kopftuchbann im öffentlichen Dienst, an Universitäten und sogar in der Armee aufhob, instrumentalisiert sie das Thema bis heute. Noch am Sonntag behauptete der AKP-Abgeordnete Abdulahat Arvas auf einer Kundgebung für die Kommunalwahl im März, dass Frauen mit Kopftuch bei einer Niederlage seiner Partei wieder unterdrückt würden. Sie könnten dann „nicht mehr unbehelligt auf den Straßen laufen“.

Die „Ten Year Challenge“ belegt eher das Gegenteil. Noch nie zuvor haben Frauen in der Türkei so offen und vorurteilslos über das Kopftuch diskutiert. Hier äußert sich die weibliche „Generation Erdogan“, die unter der seit 17 Jahren andauernden AKP-Herrschaft aufwuchs und erstmals mit ihren Erfahrungen öffentlich sichtbar wird. Vorbereitet wurde die Hashtag-Welle durch die vor einem halben Jahr gegründete Internetplattform „Du wirst nicht allein laufen“, auf der junge Frauen aus konservativen Familien anonym davon berichten, welchem Druck sie wegen der Ablehnung des Kopftuchs ausgesetzt sind.

Von einer „stillen Revolution“ schreibt der gläubige Schriftsteller Levent Gültekin auf der oppositionellen Internetplattform Oda TV, denn es sei „nicht einfach, das Kopftuch wieder abzulegen, wenn man es lange getragen hat“. Er führt das plötzliche Aufbegehren direkt auf die zunehmend korrupte AKP-Politik zurück. „Die Politiker haben die religiösen Gefühle der Menschen für politische Ziele genutzt, und jetzt werden die religiösen Menschen für alle Fehler und Ungerechtigkeiten der AKP-Politiker verantwortlich gemacht. Die Frauen entfernen jetzt das Kopftuch, um zu zeigen, dass sie nicht zur AKP gehören und für deren Fehler, Ungerechtigkeiten, Korruption und Gesetzlosigkeit verantwortlich sind.“ Er urteilt: „Das ist der Bankrott des politischen Islam.“

Meinungsforscher bestätigen eine zunehmende „Kopftuchmüdigkeit“. Die Umfragefirma Konda publizierte vor drei Wochen eine Studie, derzufolge die Menschen trotz – oder wegen – der AKP-Herrschaft weniger fromm geworden sind. Die Quote derer, die sich als religiös bezeichnen, sank in den vergangenen zehn Jahren von 55 auf 51 Prozent, strenggläubig nennen sich heute nur noch zehn im Gegensatz zu früher 13 Prozent. Und während damals zehn Prozent der Mädchen und jungen Frauen ihren Kopf nie verhüllten, sind es jetzt schon 58 Prozent.

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